08 Apr

Europa – Meditation # 259

Über die Ungenauigkeit des Denkens mit Wörtern –

oder

Alles zurück auf Null – dann Neustart –

oder

Wie die Angst vor dem Tod auch die Angst vor dem Irrtum wachsen lässt.

In den letzten Wochen und Monaten erleben die Europäer geradezu einen Platzregen an medialer Informationsversessenheit: In Immer neuen Statistiken und Fremdwörterübungen wird Unterricht für alle Tag und Nacht angeboten. Gleichzeitig werden nicht nur lieb gewonnene Gewohnheiten, nein, auch allzu vertraute Sprachwendungen obsolet – hat man sich getäuscht oder wurde man getäuscht oder hat man sich gerne täuschen lassen?

Jetzt kann es jeden erwischen – ganz gleich, ob er glaubt, da sei etwas in der Luft, das ihn töten könnte, oder da sei überhaupt nichts dergleichen. Das macht Angst.

Aber nicht nur das.

Denn auch die so unterschiedlichen Deutungen, die jeder mit sich spazieren führt, lassen das Vertrauen in die Sprache und ihre Wortgebilde immer geringer werden.

Fast sieht man sich der Frage gegenüber: An was kann ich denn eigentlich überhaupt noch glauben?

Womit der wunde Punkt benannt ist.

Auch das, was wir bisher für richtig hielten, ist nur der Glaube daran gewesen und die täglichen Übungen, uns in diesem Glauben zu bestätigen. Wenn das aber so ist, dann könnte ja auch jede andere Deutung brauchbar sein. Und warum ergreifen wir dann jene und andere wiederum andere? Da beginnen uns die Felle fort zu schwimmen. Wie bei einem Schneebrett geraten wir unversehens ins Schliddern, ins Abstürzen, ins Halt Verlieren.

Dass die einen jetzt auf die anderen mit langem Finger weisen und sie Leugner des Offensichtlichen schimpfen, ist aber vielleicht auch nichts anderes, als der verzweifelte Versuch, lieb gewonnene Glaubenssätze auf keinen Fall in Frage stellen zu lassen. Auf keinen Fall. Aber die Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber – auf welcher Seite auch immer!

Sätze wie „Die Politik muss endlich Nägel mit Köpfen machen“ oder „Die Nation will nicht länger eingesperrt sein“ oder „Da ist der Kanzlerin wohl das Ruder aus der Hand geglitten“ oder „Der Dienstleistungssektor bricht zusammen, wenn ihm nicht geholfen wird“ oder „Musik, Kunst und Kultur sind unverzichtbare Säulen eines sinnvollen Lebens“ – solche Sätze sind anschauliches Wortmaterial für unseren willkürlichen Glauben, hinter Wörtern Leben zu wähnen. Doch da wir blindlings nach ihnen handeln, verändern wir mit ihrer Hilfe die Welt und glauben, so auch die Bestätigung

mitgeliefert zu haben, dass das in den Wörtern Gemeinte auch wirklich wahr ist. Wenn dann aber diese Wortkartenhäuser – so wie derzeit – in sich zusammen zu stürzen drohen, ist plötzlich guter Rat teuer. Am besten zuerst einmal den anderen beschimpfen, dass der auf dem falschen Dampfer fahre und dass man selber nach wie vor völlig richtig liege mit seinem eigenen Kurs. Die Tonlagen werden lauter, schriller. Denn es will sich weder einvernehmlicher Sinn noch Nachgeben der anderen Seite einstellen.

Dabei sind es doch alles nur Probeläufe, vorläufige Vereinbarungen in einer Versuchsanordnung, die nur so lange ihre Gültigkeit hat, wie genügend Menschen bereit sind, ihr zu folgen.

Jetzt wäre also ein guter Zeitpunkt, den Standpunkt des Besserwissers zu verlassen und den Nachbarn und die Nachbarin samt Kinder an die Hand zu nehmen und gemeinsam einfach mal kleine Brötchen zu backen.

Das gute Gefühl beim gemeinsamen Tun, der gut Duft und der Genuss des Gebackenen könnte dann wie ein neuer Morgen werden, an den gestern noch niemand hatte glauben wollen.

Ach so. Nur so als kleine Erinnerung:

Hatten wir Europäer nicht Jahrhunderte lang geglaubt, wir seine der Käs?

Hatten wir Europäer nicht Jahrzehnte lang geglaubt, dass der atomare Krieg vor der Tür stünde?

Hatten wir Europäer nicht schon immer geglaubt, dass die Wirtschaftsform, die wir nach und nach immer besser machen wollten, die beste aller denkbaren sei, sozusagen die Endlösung? – von den Aufwendungen für Rüstung ganz zu schweigen!

Und was ist aus all diesen Glaubenssätzen und den damit verbundenen Folgen geworden?

Als säßen wir auf gefährlichstem Treibsand – das wortreiche Beteuern, es gäbe dazu keine Alternativen, ist doch nur ein weiterer schnell gesagter Glaubenssatz, der uns nicht mehr in eine lebenswerte Zukunft zu tragen vermag.

So könnte doch tatsächlich ein Morgen vor uns liegen, in dem wir nicht mehr die verbrauchten Wörter und die daraus folgenden Erosionserscheinungen brav und trotzig zugleich wiederholen, sondern in dem wir dem globalen Irrtum der Bereicherung, Aufrüstung und Verschwendung ein neues, einfacheres, naheliegenderes Wörterhaus erfinden, in dem sich probeweise gut und friedlich für alle wohnen ließe.