04 Jun

Leseprobe – YRRLANTH – Roman – Blatt # 137

Duc Rochwyn und Abt Ambrosius in einem Glaubens-Machtkampf.

Ein großer Vollmond geht langsam über Argentovaria auf. Die kleine Gemeinde bereitet sich auf den Schlaf vor. Angst und Albträume werden ihr Einschlafen immer wieder stören. Unsichere Zeiten. Der Frankenkönig in Lutetia hat andere Sorgen zur Zeit, als die letzten senatorischen Familien, ihre Villen und die jüdischen Grüppchen vor Ort zu schützen. Übergriffe der Franken – der eiskalte Winter, der dunkle und nasse Frühling hat Pflügen und Säen erst sehr spät ermöglicht – finden immer wieder statt. Wie auch der Streit eben zwischen Rochwyn, Ambrosius, den Bürgern und der kleinen Gruppe verängstigter Juden.

Ob es im Herbst genug Mehl für Brot geben wird, weiß nur der neue Gott der Christen. An jedem Sonntag beten sie in der kleinen Holzkirche um seinen Beistand. Aber ihr Glaube ist noch längst nicht in ihren fränkischen Seelen gefestigt. Da geistern ganz andere Dämonen und Göttinnen durch die Wälder, Sümpfe und durch den Nebel über dem Fluss. Vor allem nachts finden immer wieder heimlich Opferrituale statt, um die Geister günstig zu stimmen.

Da klopft es laut an der kleinen Tür einer Hütte im jüdischen Viertel. Ängstliches Stimmengewirr ist die Antwort. Rochwyn klopft erneut.

„Macht mir auf, ich bringe Hilfe, nicht Not!“

Da wird es still im Innern. Schließlich hört Rochwyn, wie innen ein Riegel langsam weggeschoben wird. Im Türspalt erscheint das Gesicht eines alten Mannes, weiß sein Haar, tiefschwarz seine Augen. Mit leiser Stimme fragt er: „Wer seid ihr und was wollt ihr zu so später Stunde in unserem Viertel?“

Rochwyn lächelt breit, schiebt sanft die Tür auf und sieht im Hintergrund Frauen und Männer, die sich schützend um ihre Kinder geschart haben. Angst ist die Botschaft, die sich in ihren Gesichtern spiegelt.

„Ich bin Rochwyn, Duc Rochwyn aus YRRLANTH. Ich begleite eine Gruppe von Mönchen zu ihrem Missionsziel jenseits des Rhenus. Ich brauche kräftige Leute und auch eine Frau als Amme. Wäret ihr bereit, in meinen Dienst zu treten. Verpflegung und Schutz sichern meine Männer.“

„Habt ihr nicht selbst Männer und Frauen genug?“

Rochwyn versteht das Misstrauen des Alten, der aber dennoch Rochwyn herein bittet. Schweigend stehen alle um die beiden, die sich nun am kleinen Holztisch auf Schemel sitzend unterhalten. Rochwyn erzählt von den Erlebnissen und Kämpfen gegen Räuber, vom Tod einiger seiner Krieger und von Somythall und Sumil, denen eine Amme gut tun würde.

Spätestens nach zwei Wochen würden sie auf dem Rückweg hier wieder vorbei kommen. Dann wäre der Hilfsdienst auch schon zu Ende – er würde sie auch reich entlohnen.

„Gebt mir Bedenkzeit, bitte. Ich muss es in unserem kleinen Familienrat besprechen. Aber jetzt schon: Gott sei‘s gedankt, dass ihr solch ein Angebot macht.“

Alle nicken und versuchen dabei ein zaghaftes Lächeln. Rochwyn ist zufrieden. Er spürt, dass sein Angebot auf fruchtbaren Boden fällt. Als er wieder im Lager seiner Leute ist, trägt er Wytgos auf, schnell hinüber zu den Mönchen zu laufen: Rochwyn müsse dringend den Abt sprechen, dringend. Somythall – sie hatte Sumil schon gestillt und schlafen gelegt – ist überrascht, Berolis, Taragteros und Melfotys auch. Was hat der Duc vor? In seinem Gesicht steht ein rätselhaftes Grinsen, das gleich verschwindet, als Wytgos mit einem gar nicht erfreuten Ambrosius zurück kommt.

Mit einer großzügigen Geste fordert er den Abt auf, doch Platz zu nehmen. Der lehnt dankend ab.

„Was kann so wichtig sein, dass ihr mich noch vor unserem letzten Nachtgebet zu sprechen wünscht?“ fragt Ambrosius unwirsch. Er ahnt, dass keine gute Nachrichten auf ihn warten. Aber was könnte das sein, jetzt, so kurz vor Ende ihrer langen Reise zu den Heiden?

„Nun.Nun.“ Rochwyn lässt sich Zeit. Er setzt sich, Somythall und seine treuen Paladine bleiben im Hintergrund. Sie sind sehr neugierig. Auch sie spüren, dass Rochwyn etwas vorhat, das sie alle überraschen könnte.

„Mich schmerzen noch immer die Verluste, die wir auf unserer Reise erlitten haben. Treue, tapfere Männer waren es, alle.“

Und wieder macht er eine lange Pause. Dabei schaut er unverwandt dem Abt in die Augen.

„Wir schließen sie jeden Tag in unsere Gebete ein. Christus wird sie sicher zu sich geholt haben oder ihnen zumindest ewiges Leben versprochen haben, falls sie noch im Fegefeuer Buße tun müssen.“

Rochwyn würde am liebsten losschreien. Dieser kalte Abt, dieser selbstgefällige Christ, es ekelt ihn an. Darum freut er sich jetzt umso mehr, Ambrosius etwas zu eröffnen, das ihm gar nicht schmecken wird.

„Wenn wir den Rhenus und Mogantiacum heil hinter uns und das letzte verfallene Kastell am ehemaligen Limes in unserem Rücken haben werden, sind wir in sehr gefährlichen Wäldern und Höhenzügen unterwegs. Voller Hinterhalte.“

„Das weiß ich doch, deshalb haben ich und meine Mitbrüder ja diese rote Mission auf uns genommen. Gibt es etwa neue Nachrichten von den Heiden dort?“

Rochwyn ist verärgert. Er mag es nicht, wenn man ihn unterbricht. Schon gar nicht von so jemandem wie Ambrosius. Nun, denkt er zufrieden, dann nimm das hier jetzt, du Christ!

„Nun, um unsere Reihen aufzufrischen, habe ich hier in Argentovaria drei starke Männer gewinnen können, die Reise samt Gefahren mit uns zu teilen. Sogar eine Amme will mitkommen – sie ist die Frau von einem von den dreien – um Somythall und Sumil beizustehen. Ist das nicht wunderbar?“

Abt Ambrosius hört es gern, erhöht es ja die Sicherheit für alle von ihnen, aber warum muss er mir das jetzt, so spät am Abend noch mitteilen, fragt er sich, als er antwortet:

„Gottes Wege sind unergründlich. Gerade in der Not steht er uns bei in seiner unendlichen Liebe.“

„Du bist also einverstanden?“ fragt Rochwyn lächelnd.

„Warum sollte ich nicht einverstanden sein? Ich wundere mich nur, dass du in dieser Frage, die du doch ganz alleine als unser Anführer entscheiden kannst, mich hinzu ziehst.“

Rochwyn nickt. Kurz schaut er hinüber zu Somythall, die auch große Augen macht: Rochwyn, Rochwyn, warum das ganze Theater, komm, raus mit der Sprache, scheint ihr Schmunzeln zu sagen.

„Nun, die vier neuen Mitglieder in unserer Reisegruppe zu den Heiden sind vier junge Juden aus der jüdischen Gemeinde hier in Argentovaria. Sie sind ja Flüchtlinge aus Argentorate, es geht ihnen sehr schlecht hier, wie du sicher weißt.“

Abt Ambrosius schnappt nach Luft. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit solch einem teuflischen Plan. Er schwankt, auch die anderen im Raum sind völlig überrascht. Damit hat keiner von ihnen gerechnet. Nur Somythall lächelt erfreut. Was hat sie doch für einen wunderbaren Mann an ihrer Seite!

Die Lippen von Ambrosius zittern, sein Gesicht fahl, bleich, jetzt beginnt er zu wispern, zu zischeln, seine Augen scheinen Giftpfeile loszuschicken:

„Die Juden haben unseren Gott, den einzigen, getötet“, flüstert er, dabei klappert er sogar mit den Zähnen.

„Das dürft ihr nicht tun, Duc Rochwyn, ihr verhöhnt damit Christus, unseren Gott!“ Ambrosius hat seine Stimme wieder gefunden, dazu schüttelt er wild entschlossen seinen kahlen Kopf, so dass die Kapuze seiner Kutte ihm über die Stirn ins Gesicht rutscht. Rochwyns Männer können ein Kichern nicht unterdrücken. Mit einer scheinbar strengen Geste bitte er seine Leute, das doch zu unterlassen. Sie verstummen und verschlucken ihr Gekicher.

„Hast du nicht eben selbst gesagt, dass ich als Anführer das doch ganz alleine entscheiden kann, Abt Ambrosius?“

Der schnaubt wie ein wild gewordenes Pferd, dreht sich abrupt um und verlässt ohne Gruß und Verneigung den Raum.

„Und vergesst nicht, unsere neuen Kräfte in euer Nachtgebet mit einzuschließen“, ruft er ihm mit lauter Stimme noch hinterher.

Knallend fällt die Tür in den ächzenden Rahmen. Schnell verhallen die Schritte von Ambrosius in der Dunkelheit.

Somythall aber läuft jetzt zu Rochwyn hin, umarmt ihn und sagt:

„Wie hast du das nur hingekriegt?“

Da fällt ihm wieder ein, dass der Alte um Bedenkzeit gebeten hatte. Was, wenn sie kneifen?

Das verschiebe ich einfach auf morgen – dabei hat er aber ein gutes Bauchgefühl. Wird schon klappen. Seine Götter werden doch nicht diesem Priester der Christen jetzt einen Sieg gewähren. Das kann nicht sein.

„Ja, das würde uns auch sehr interessieren“, schließen sich nun seine Leute der Frage von Somythall an.

„Das ist eine lange Geschichte, Freunde. Verschieben wir es einfach auf morgen. Wir sollten jetzt schlafen gehen.“

01 Jun

Leseprobe – YRRLANTH – Roman Blatt 136

Die Christen in Argentovaria und ihr Sündenbock.

Als Somythall sich zum Ausgang des alten Heiligtums so vieler Göttinnen und Götter umwendet, fällt ihr Fackellicht auf eine weitere Nische, die sie beim Hereinkommen wohl übersehen hatte. Rochwyn, der gleich wieder neben ihr steht, gibt der großen Plastik mit seinem zusätzlichen Fackelschein noch mehr Licht. Lacht dieser Gott etwa?

„Wer ist das?“ flüstert sie stotternd.

„Kernunnus“, antwortet Rochwyn, „der Gehörnte“, Gott der Natur, der Tiere und der Fruchtbarkeit.“

Er sitzt mit überkreuzten Beinen da, bärtig und mit einem Füllhorn im Arm. Aus seinem Schädel wachsen ihm zwei ausladende Hörner, wie bei einem Hirschen. Mit nacktem Oberkörper trägt er sonst nur eine lange Hose. Und neben ihm erkennt Somythall natürlich gleich zwei vertrautere Figuren: rechts von ihm Apoll und links von ihm Merkur, beide völlig unbekleidet und wunderschön. Somythall weiß gar nicht, was sie mehr bannt; jedenfalls ist sie erregt, sprachlos und erinnert sich gleichzeitig an einen kleinen behauenen Stein, den ihre Großmutter in Yrrlanth meistens in der Hand hielt. Irgendwie meint sie, dass diese Figurengruppe diesem Stein ähnelt. Irgendwie.

Sie atmet tief ein, will etwas sagen, tut es aber dann doch nicht. Plötzlich möchte sie schnell wieder zum Tageslicht zurück. Diese Welt hier unten im Schein ihrer Fackeln hat sie völlig verwirrt. Ein ihr gänzlich fremdes Glücksgefühl verleiht ihr geradezu Zauber-Schwingen. Schwebe ich? Sie würde am liebsten singen, tanzen, mit Rochwyn eins sein.

Draußen ist aber vom Tageslicht nicht mehr viel übrig. Als sie jetzt ihre Fackeln löschen und sich anschauen, meint sie, in ihren Augen schimmre weiter ein heller Glanz in ihnen nach. Lange gehen sie wortlos Richtung Argentovaria. Rochwyn hat einen Arm um ihre Schulter gelegt. So kennt sie ihn gar nicht, so nah. Geht es ihm genauso wie ihr?

Von weitem hören sie laute Stimmen. Es klingt wie ein Streit. Rochwyn strafft sich, löst sich aus der Umarmung und geht jetzt vor ihr her, als müsse er sie schützen vor dem, was ihnen da entgegenschallt.

Die Hütten der Franken stehen ungeordnet um eine Mitte, wo früher vielleicht einmal ein Marktplatz war. Argentovaria. Dort sehen sie Männer gestikulierend eifern.

Jetzt können sie auch verstehen, was sie sagen:

„Sie sollen hier endlich verschwinden!“

„Lass sie doch, sie haben schon genug mitgemacht!“

„Ihr Problem, nicht unsres. Der Bischof kann sie auch nicht leiden.“

„Der! Der will nur mehr Abgaben, mehr Macht. Deshalb passen ihm die Sonderregeln für die nicht, ist doch klar oder?“

„Was verstehst du schon davon, hä? Haben die nicht unseren Christus auf dem Gewissen?“ Somythall schaut Rochwyn fragend an. Da sagt er:

„Es geht um die Juden, die nach dem Hunneneinfall in Argentorate mit verantwortlich gemacht wurden für das Gemetzel und die Zerstörungen. Da konnten sie dort nicht bleiben. Eine kleine Gruppe hat sich hier in Argentovaria niedergelassen.“

„Aber warum?“

„Weil, weil…“, Rochwyn zaudert. Der Hass in den Mienen der Streithähne ekelt ihn an. Was sind das für Christen, diese Franken, wenn sie so gefühlslos gegen andere los wettern? Seine Großeltern hatten ihm von den Gewalttaten gegen jüdische Stadtbürger in Argentorate erzählt. Es hatte dort eine kleine jüdische Gemeinde gegeben. Seine Familie hatte sogar Tuchgeschäfte mit ihnen von Arelate her betrieben, wo Rochwyns Familie ein großes Handelshaus erfolgreich führen.

„Sie hatten ihr eigenes kleines Gebetshaus an der Stadtmauer, gleich neben ihrem eigenen Viertel. Es war Kaiser Justinian, der ihnen vor gut hundert Jahren alle bürgerlichen und religiösen Rechte entzog. Die Bischöfe in Rom hatten lange auf den Kaiser eingeredet: Sie seien schuld daran, dass ihr Erlöser in Jerusalem getötet wurde.“

„Aber Christus ist doch selbst ein Jude – oder?“

„So ist es!“

Zufällig kommen da Abt Ambrosius und seine Mitbrüder vom Abendgebet vorbei. Gerade als sich der Abt energisch einmischen will, sieht er Rochwyn und bricht seinen Wutanfall ab, bevor er überhaupt richtig seine Hasspredigt einbringen kann.

Nun haben auch die streitenden Franken die Dazukommenden bemerkt. Für einen Moment unterbrechen sie ihr Geschrei und wildes Gestikulieren. Es wirkt fast wie ein düsteres Schattenspiel auf einer kleinen Bühne. Die drei Juden, die mit ihren Kinder schon ängstlich davon laufen, bekommen so gar nicht mehr mit, wie Rochwyn und Somythall sich einmischen.

„Ist das die Botschaft der Liebe, die euer Gott verkündet hat? Gilt sie nur für euch oder gilt sie für alle?“

Rochwyn ruft es laut in die Runde. Somythall legt nach:

„Der Frankenkönig hat ihnen doch sogar einen Schutzbrief ausgestellt – gilt der in Argentovaria nicht?“

Rochwyn staunt. Woher weiß sie das? Aber er hat keine Zeit, darüber nachzudenken, denn jetzt erhebt auch Ambrosius das Wort. Er fühlt sich seinen Mitbrüdern gegenüber dazu verpflichtet.

„Schutzbrief, Schutzbrief! Wir sollen unserer Kirche dienen. Sie haben das Blut unseres Gottes vergossen, nun soll ihres fließen, heil dir, Christus, Sieger und Erlöser!“

„Amen, amen!“ antworten ihm seine Mitbrüder, die sich in großer Geste bekreuzigen, „amen, amen!“

Die Meute der Wütenden nickt zufrieden.

„Sie sollen verschwinden, sonst töten wir sie!“

Rochwyn und Somythall schauen sich nur an, schütteln entsetzt den Kopf.