13 Aug

Europa – Meditation # 279

Die Flüchtigkeit von Welt und Leben. Teil III

Nachts. An der Ahr, die wütet und tosend tobt. Das schöne neue Holzhaus steht längst unter Wasser. Es schüttet weiter, als wäre der Himmel ein Meer, das leer zu laufen droht. Dämme und Schleusen wohl überspült da oben. Und da unten?

Franz sitzt – oder besser: hangelt – mit seiner Frau Ilse auf dem First ihres schönen Hauses. Die Solarzellen glänzen dunkel unter ihnen. Rätselhafte Figuren bildet das reichliche Regenwasser auf der spiegelglatten Oberfläche. Deltas. Wanderdünen…

Ilse hält das schreiende Lenchen im Arm, mit der anderen Hand versucht sie sich stabil aufrecht zu halten. Die Todesangst sitzt ihr krampfend in den Beinen. Oskar kann es nicht fassen. Sein Vater hält ihn fest an sich gedrückt, sie können kaum das Gleichgewicht halten.

„Papa! Wann kommt denn endlich der Hubschrauber?“

Fritz atmet schwer ein. Er kann seinem kleinen Sohn nicht in die verängstigten Augen sehen. Er schaut in die schwankenden Wasserwände, die sich im stürmenden Dunkel verlieren. Irgendwo meint er einen blauen Schimmer ausmachen zu können. Ist da die Rettung im Anflug? Gut, dass es Eimer vom Himmel schüttet, so muss mein eigener Sohn nicht sehen, wie mir die Tränen die Wangen herunter laufen, denkt er noch.

Dann sieht er einen Campingwagen auf sie zu trudeln. Als er gegen den Giebel prallt, zittert der gesamte Dachstuhl. War das ein Fest gewesen, das Richtfest! Wie stolz waren die beiden Brüder auf ihr Werk gewesen!

Da rauscht wie ein Torpedo ein glatt geschälter langer Baumstamm auf ihr Haus zu, durchbohrt den Caravan wie Butter und donnert krachend in den Giebel.

„Fritz! Ich kann nicht mehr!“ Ilse ist wirklich am Ende. Lenchens Geschrei ertrinkt im Starkregen. Oskar hält sich krampfhaft an den Schindeln fest. Ihm ist kalt, er schluchzt, schaut zum Vater. Wie lange werden sie das durchhalten, wie lange?

Da kommen weiter Baumstämme hinterher, rasen polternd durch den Caravan, der gekreuzigt am Giebel baumelt, zerschmettern die Dachwand, als wäre sie aus Papier.

Als jetzt ächzend der Dachstuhl in sich zusammen stürzt und die gesamte Familie mit in die Fluten reißt, verschluckt das Tosen der wilden Wasserwände in der Luft wie nichts die kleinen und großen Todesschreie.

„Ich bekomme keine Verbindung mit Franz“, sagt an der Ostsee der Bruder zu seiner Frau Billa. Totaler Ausfall.“

„Ich hab so ein komisches Gefühl, Fritz…“ flüstert Billa. Mit einem Ohr hört sie hinüber zu den gleichmäßigen Atemzüge ihrer Zwillinge. Alles gut, alles gut. Aber die unten an der Ahr? Wenn sie beten könnte, würde sie jetzt beten. Aber sie kann nicht. Schlafen geht aber auch nicht.

„Versuch es doch noch einmal, bitte, Fritz!“

„Gerade hab ich meinen Bruder ganz deutlich vor mir gesehen, ehrlich. Schock. Aber die Handy-Verbindung ist tot.“

Billa kommen die Tränen. Sie weiß auch nicht warum. Sie kommen halt einfach.

Und 2024 – bei der Olympiade in Paris – wer wird sich da noch daran erinnern? Ehrlich. Fritz, der Bruder, und seine Familie sicher. Aber schon die Zwillinge werden nicht mehr wissen, wie Oskar und Lenchen ausgesehen haben. Und die Ahr? Da hofft man wieder auf weinselige Gäste.

12 Aug

Europa – Meditation # 278

Die Flüchtigkeit von Welt und Leben Teil II

Europa 2021. Die Brüder Fritz und Franz sind stolz auf das, was sie zusammen geleistet haben: Mit viel Glück hatten sie den tollen Bauplatz ergattert – gar nicht weit weg von der Ahr, mit super Blick flussauf- und flussabwärts – hatten ein schickes Holzhaus gebaut, mit Solarzellen auf dem Dach, hatten beide geheiratet, hatten beide Kinder, waren beide Zimmerleute und liebten es, mit Auto und Wohnwagen an der Ostsee Urlaub zu machen. Die Schulden würden sie schon noch wuppen.

Am Morgen des 14. Juli 2021 gibt es Streit. Fritz will los, trotz Regen und trotz des Wetterberichts, Franz will lieber noch einen Tag oder notfalls auch zwei abwarten. Die beiden Wohnwagen stehen bereits fertig beladen neben ihrem schönen Holzhaus. Ein eigenartiger Glanz liegt auf den glatten Balken. Wasserabweisendes Holzöl , klar.

„Nee, bin doch nicht blöd, bei dem Wetter, nee“.

„Franz, was soll das denn? Wir fahren immer zusammen los. Das Wetter ist doch scheißegal. Stell dich nicht so an.“

„Mir doch egal. Ich hab einfach keine Lust auf Aquaplaning.“

Wortlos schauen sich die Brüder eine Weile an, starren dann durch das Fenster in den verregneten Morgen. Starkregen hat der Wetterbericht vorhergesagt. Ist ja nichts Neues. Das Wetterradar zeigt im Westen – Belgien, Nordfrankreich – bereits lila Töne. Das kann ja heiter werden. Ich fahr los, denkt Fritz. Auf keine Fall, denkt Franz.

Dann trennen sie sich. Ilse, schaut oben vom Kinderzimmer mit Lenchen auf dem Arm zu, wie Fritz, Billa und die Zwillinge ins Auto stürmen.

„Mensch, die sind doch klatsch nass, wenn die losfahren!“ flüstert Ilse Lenchen ins Ohr. Die brabbelt vor sich hin und sabbert. Und schon sind sie weg.

„Papa, du hast versprochen, dass wir heute losfahren, bitte!“ quengelt der fünfjährige Oskar.

„Bei dem Wetter? Nein! Los, geh hoch, hol deine Lego-Tonne und bau was Schönes, los!“

Maulend klettert Oskar die Treppe hoch. Er will nicht Lego, er will an die Ostsee. Gemein aber auch, Papa ist richtig gemein.

In Frankreich wird wie gewohnt und trotz Pandemie der Nationalfeiertag in Szene gesetzt: Reden, Fahnen, Musikkapellen, Veteranen in Ausgehkluft samt Orden, am Abend sind wie immer Feuerwerke angesagt – auch in der Bretagne, in Lorient zum Beispiel oder…

„So, bring die Kinder schon mal ins Bett, ich schau noch die Wetterkarte an!“ sagt schlecht gelaunt Franz zu seiner Frau.

„Die will ich gar nicht sehen. Fritz schickt gerade eine Nachricht, die sind schon da!“ Ilse kommen die Tränen. Sie hatte nicht gewagt, Fritz zu überreden, auch loszufahren, am Morgen. Und draußen prasselt der Regen nur so runter. Starkregen, Flut. Wie schön wäre es jetzt, mit Billa ein Bierchen zu trinken, direkt am Strand!

11 Aug

Europa – Meditation # 277

Die Flüchtigkeit von Welt und Leben. Teil I

1953 und 2021

Europa 1953. Das ist gerade mal 68 Jahre her. Wer erinnert sich noch an dieses Wochenende? Mitten im Winter tobt in der Nordsee ein Sturm. Nichts besonderes für die Jahreszeit. Die Menschen planen für ein gemütliches Wochenende am Kamin, im Kreise der Familie.

So auch die Schwestern Cornelia und Roberta. Eigentlich soll Roberta auf Zeeland zum Geburtstag des Patenkindes, Sonja, fahren. Cornelia will mit ihrem Mann ausgehen.

Aber die beiden Schwestern tauschen spontan ihre Rollen, so dass Cornelia nach Zeeland fährt und Roberta stattdessen ausgeht. Zufall?

Im Radio wird ein Sturm gemeldet. Na und? Holländer sind Ärger gewohnt.

Als Cornelia spät am Abend Sonja ins Bett gebracht hat – natürlich muss noch eine Geschichte vorgelesen werden – stürmt es draußen schon recht ordentlich. Als sie zur Toilette geht und aus dem kleinen Fenster auf die Straße schaut, wo ihr Wagen geparkt ist, sieht sie, dass bereits über die gesamte Breite der Straße Wasser strömt, zum Teil auch schon über die Bürgersteige. Muss ich mir Sorgen machen, sollte ich noch schnell mit der letzten Fähre zurückfahren nach Amsterdam?

Die Antwort gibt ihr der Sturm und der Regen, der wie in Sturzbächen vom Himmel fällt.

Stunden später sieht man die gesamte Familie zusammen mit Cornelia auf den Dachboden umziehen. Die Sturmflut meint es diesmal richtig ernst: Autos schwimmen bereits durch die Straße, Cornelias Auto ist längst weg und das Wasser hat die untere Etage schon völlig unter Kontrolle. Schwankt nicht bereits das Haus? Werden sie von Helfern gerettet werden? Das Wasser steigt.

Cornelia zittert am ganzen Leib, Sonja weint, die Eltern starren ins Leere. Das Gebälk ächzt, von oben tropft es mehr und mehr, jetzt quillt das Wasser auch schon durch die Öffnung des Dachbodens nach unten herein. Der Sturm heult auf, Regen peitscht gegen die Schindeln, alle klettern auf die Zwischenbalken, ihre Beine baumeln nun über grau-schwarzer Flut, die langsam weiter steigt. Ob Roberta an mich denkt, denkt Cornelia verzweifelt? Ob sie gerettet werden?

Dann geht alles ganz schnell: Die Giebelwände stürzen ein, lassen die Balken bersten, die schreienden Menschen fallen ins kalte Wasser, dass gierig nach ihnen zu greifen scheint. Die Mutter versucht verzweifelt ihr Kind über Wasser zu halten, der First stürzt auf sie, erschlägt alles, was ihm in die Quere kommt, da ein Arm, da eine Hand, Luftblasen…

Es ist das Wochenende, an dem in den Niederlanden der 15. Geburtstag von Prinzessin Beatrix gefeiert wird. Einsatzkräfte können weder zu Lande, zu Wasser oder in der Luft ausrücken. So sind die Menschen dem Wüten der Natur hilflos ausgeliefert. Man muss warten, bis der Sturm und die Flut nachlassen. Später wird von mehr als 2000 Toten berichtet werden. Vergessen.