10 Aug

Europa – Meditation # 276

„Schurken, wohin man schaut“

„Schurken, wohin man schaut. Es ist zum Verzweifeln.“ Das schreibt Daphne Caruana Galizia am 16. Oktober 2017,

an dem Tag, an dem böse Buben in ihrem Auto per Handy eine Bombe zünden, weil geld- und machtgierige Politiker und Unternehmer nicht länger von ihr entlarvt werden wollten.

Aber nicht nur auf Malta gibt es solche Schurken, auch anderenorts – wie zum Beispiel in der Slowakei, also ganz in der Nähe, wo der junge Ján Kuciak (27) und seine Verlobte Martina am helllichten Tage ermordet wurden, weil seine Recherchen den Herrschenden und Geschäfte Machern zu gefährlich geworden waren.

Oder in Rio de Janeiro, wo am 14. März 2018 Marielle Franco gewaltsam zu Tode kam, weil sie sich zu sehr für die Rechte der Armen in den Favelas einsetzte.

Oder Khashoggi. Die Herrschenden in Saudi-Arabien waschen weiter ihre Hände in Unschuld – bis heute.

Wer waren die Täter, wer die Hintermänner? Ungeklärt.

Diese Art Schurken und auch Schurkinnen gibt es in allen Kreisen, auf allen Erdteilen:

„Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“ – so übersetzt Hölderlin das zweite Chorlied aus Sophokles‘ A n t i g o n e im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Seither hat sich wenig geändert, scheint es:

Heute hören wir in den Nachrichten, dass eine Frau Impfdosen manipuliert hat, um wohl ihre Gegnerschaft in Sachen Impfen unter Beweis zu stellen: Sehr ihr denn nicht, es hilft ja gar nicht!

Von den Bereicherungsakrobaten im Rahmen der Maskenbeschaffung ganz zu schweigen.

Es sollte uns nicht wundern, wenn wir in den nächsten Tagen erfahren werden, dass dreimal kluge Schurken die verzweifelten Menschen an der Ahr auf perfide Art zu betrügen wissen, um aus ihrer Katastrophe Kapital zu schlagen. Wetten?!

Es ist zum Verzweifeln. In der Tat.

Aber das ist nur die eine Seite.

Die andere ist von spontaner Hilfsbereitschaft und unermüdlichem freiwilligen Einsatz gekennzeichnet.

Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf, schrieb Thomas Hobbes bereits vor langer Zeit und er wird heutzutage gern zitiert.

Aber Europa, die weitsichtige, weiß auch von einer anderen Botschaft zu berichten:

Der Mensch ist nur zusammen mit dem nächsten überlebensfähig, im Gegeneinander sägt er nur an dem Ast, auf dem sie alle miteinander hocken.

Das gilt jetzt mehr denn je, denn die nicht mehr klein zu redenden Veränderungen um uns herum machen doch jedem klar:

Ungeheures hat der Mensch inzwischen genug angerichtet, ungeheure gemeinsame Anstrengungen tun jetzt not, um die Not a l l e r doch noch zu wenden. Geld scheffeln wollen erscheint da eher nur noch als ein schlechter Witz. Schurken sind jetzt ein Auslaufmodell.

08 Aug

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 121

Die Rückkehr der glücklosen Brüder nach Sidon / Teil III

Kilix, Kadmos und Phoinix versuchen zu verstehen, was sie gerade von der so grässlich kreischenden Alten hatten hören müssen. Ufroras, der König der Assyrer, war es also. Aber warum? Er war zwar der abgelehnte Brautwerber um die Hand ihrer Schwester Europa gewesen, aber sonst? Warum war ihr Vater, Agenor, gegen ihn zu Felde gezogen? Wenn doch nur ihre Mutter noch lebte! Sie würde sie trösten, sie würde den Göttern opfern, würde die Orakel befragen, würde ihnen sicher wieder Hoffnung machen wollen. Aber Telephassa, ihre Mutter, ist ja längst in der Welt der Geister angekommen.

„Vielleicht träumen wir von ihr, vielleicht weiß sie Rat, vielleicht…!“ beginnt Kadmos leise vor sich hin zu reden.

„Von wem redest du denn überhaupt?“ fragt ihn Kilix unruhig.

„Von wem schon, von unserer Mutter natürlich. Stimmt‘s, Kadmos?“ mischt sich Phoinix ein.

„Hört auf damit, bitte. Kommt, lasst uns lieber zum Palast gehen…“

„Oder was davon noch übrig ist!“

„Egal. Los, am Abend sollten wir wissen, wo wir übernachten können!“

Die drei Brüder machen sie niedergeschlagen auf den Weg. Überall nur Trümmer oder Häuser mit eingestürzten Dächern, ehemalige Säulengänge sind nun nur Hindernisse, die im Weg herum liegen. Und überall zerlumpte Menschen, Kinder, an kleinen Feuern zusammen sitzend oder wortlos vor sich hin starrend, lautlos redend oder gestikulierend. Unsere drei Brüder versuchen möglichst nicht hinzuschauen. Sie wollen auch von niemandem erkannt werden. Die Armen suchen sicher einen Schuldigen für ihr Unglück, und was wäre näher liegender als des Königs Söhne auszuwählen?

Nur mühsam kommen sie voran. Sie erkennen ihre eigene Heimatstadt, ihre Gassen nicht mehr wieder. Doch am späten Nachmittag erreichen sie endlich den Platz vor dem Königspalast, der nur noch als Ruine von ehemaliger Größe und königlichen Festen erzählt. Sie haben Hunger. Sie sind übermüdet, erschöpft und niedergeschlagen. Müde setzen sie sich auf dem Vorplatz einfach auf den Boden – sie meiden die Mauerreste des Palastes, die noch stehen, sie könnten jeden Augenblick einstürzen.

So sitzen sie stumm da, ratlos, verzweifelt.

Doch dann kommt unvorhergesehen Bewegung in die Szene, denn in dem Augenblick, als auf Kreta die Erde bebt und der große Suppenzuber vor dem Tempel der großen Göttin scheppernd zu Boden stürzt und dort das Sterben der Tiere beginnt, bebt auch im fernen Phönizien, im zerstörten Sidon, die Erde. Großes Geschrei ist überall zu hören, Mauerreste fallen knirschend in sich zusammen, jetzt kommen einige Erschrockene auf den leeren Platz gelaufen, wo auch unsere drei Brüder aus ihrer dumpfen Trauer unsanft hoch geschreckt werden. Dann unheimliche Stille.

„Was war das?“ fragt Kilix seine Brüder, „ist nicht schon genug Leid über die Stadt gekommen? Schicken die Götter noch eine Strafe hinterher? Warum?“

08 Aug

Europa – Meditation # 275

Blindenführung durch Europa.

Europa, die weitsichtige, nimmt uns dieser Tage an die Hand und führt uns zu den hot-spots (was für ein zutreffender terminus technicus!) rund ums Mittelmeer. Wir sind zwar blind, aber wir können zumindest noch gut riechen und gut fühlen.

Unsere nackten Füße berühren heißen Sand und unsere Nase ist voller weißer Asche und es riecht nach Feuersbrunst. Was ist da los, Europa?

Tränen in ihren Augen verwischen ihr das Inferno-Bild: es ist nur noch glutrot und glutbelb und grauschwarz darüber, düster insgesamt. Wir sehen es nicht, wir hören aber die erbärmlichen Schreie fliehender Menschen. Wovor fliehen sie, Europa?

Und schon sind wir beim nächsten hot-spot unserer Europa-Führung.

„Eben erst waren wir auf Sizilien, auf dem Peleponnes, auf Euböa, in Milet, jetzt stehen wir am Ufer der Ahr“, flüstert uns Europa ins Ohr.

Der Ahr? Meinst du dieses kleine Flüsschen, das sich in vielen romantischen Kehren den Weg aus der Eifel zum Rhein hin bahnt?

„Ja, die meine ich“, schluchzt Europa.

„Warum weinst du, Europa?“ fragen wir, die Blinden an ihrer Hand. Doch da hören wir noch mehr Schluchzen, Weinen, Wehgeschrei. Als hätte Baal selbst, der große Wettergott in seinem Zorn eine kleine Sintflut über der Eifel entleert, so wurden sie mitten in der Nacht gewaltsam überflutet. Jetzt ist dort nichts mehr wie vorher. Und das für sehr lange. Und weiter geht die Wanderschaft unter der kundigen Führung Europas.

„Hört ihr das dumpfe Rumoren in der Erde?“ fragt Europa leise. Wir hören es, aber was hat es zu bedeuten?

„Der Ätna hat schlechte Laune und speit seine glühend heiße Glut aus sich heraus, das hat es zu bedeuten“, erwidert Europa beeindruckt.

Wir aber, die Blinden in ihrem Gefolge, finden das nicht weiter nennenswert. Soll er doch schlechte Laune haben, ist uns doch egal!

Überhaupt, haben wir gerade nicht wieder die nachrichtenarme Zeit? Eigentlich schon, aber in diesem Sommer ist alles so anders als sonst – oder?

„Unsere Verwandten – die Flammen, der Wind, die Flut, die Lava – sie rotten sich zusammen und ziehen zu Felde. Gegen uns alle, ihre kleinen Halbgeschwister, die mutwillig immer noch so tun, als hätten sie nichts miteinander zu tun – höchstens insofern, als wir glauben, wir seien die bessere Hälfte der Erdfamilie, wir hochmütigen.

Da mischt sich mit zitternder Stimme Europa ein in unser selbstgefälliges Selbstgespräch:

„Hat nicht schon vor langer Zeit im alten Griechenland das Orakel immer wieder geweissagt, dass Hybris schon immer stehenden Fußes bestraft wird?

Hat sie das nicht?“

Uns aber fehlen die Referenzbilder im eigenen Land – jedenfalls bisher. Sonst hätten wir längst auf den Amok-Lauf, den wir Erdlinge seit einiger Zeit hysterisch inszenieren, mit Ohnmacht, Koma reagiert, weil wir nicht

wissen, wie man reagieren könnte. Wenn aber die furchtbaren Bilder näher und näher kommen, hilft eben nicht individueller oder kollektiver Blindflug, denn wir sind längst in einer atemberaubenden Spirale des Unheils eingespeist, der die gesamte Familie, also alle Verwandten dazu – vom Bonono, der Schildkröte über den Steinadler, das Korallenriff bis hin zu den komatösen Corona-Intensiv-Patienten europaweit erfasst hat.

Müssen denn erst die Donau, die Elbe und der Rhein aus ihrem Schlaf gerissen werden, damit auch der letzte versteht, dass es keine Ausnahmen mehr gibt, dass sich kein Elysium mehr kaufen lässt – irgendwo – dass nur noch das Helfen helfen kann, nicht das Ausbeuten, Quälen und „Herrschen“?