03 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 137

Minos‘ Bote vor der Hohenpriesterin.

Wild klopfende Herzen, schwer gehender Atem, ratlose Blicke und alle auf den Knien im Gebet:

„Göttin, was müssen wir tun, um deinen Zorn zu beschwichtigen?“

Es ist die Hohepriesterin Chandaraissa, die mit zitternder Stimme spricht. Europa kniet neben ihr. Wie Nebelschwaden ziehen ihr undeutliche Bilder durch den Kopf. Sie hört zwar deutlich die Stimme Chandaraissas neben sich, aber ihre eigene innere Stimme flüstert ihr gleichzeitig ganz andere Sätze ins Ohr: Europa, siehst du denn nicht, dass er dir nach wie vor nachstellt? Der Riese war es, der dich treffen sollte, aber verfehlte. Der Riese.

Welcher Riese, denkt Europa. Dabei blickt sie hinunter zum Palast und zum Tempel – oder zu dem, was einmal der Tempel der großen Göttin war. Die Staubwolken haben sich aufgelöst, der Anblick ist fürchterlich. Wären sie nicht zur Probe hier oben gewesen, sie wären jetzt alle tot. Alle. Was für ein Glück im Unglück!

Als sich nun die verängstigten jungen Priesterinnen nach dem Gebet wieder erheben, starren sie alle auf den Pfad hinunter zur Stadt. Jemand läuft auf sie zu. Wer kann das sein? Was wird er wollen? Chandaraissa tritt vor und erwartet den Ankömmling, der vor ihr schwer atmend in die Knie geht:

„Hohepriesterin, Archaikos, der Minos von Kreta, schickt mich. Im Ratssaal haben die Ratsherren zusammen mit Archaikos beschlossen, trotz des Unglücks – oder besser, wegen des Unglücks – das von euch und Europa geplante Tanzfest trotz allem stattfinden zu lassen und es zugleich zu einem Opferfest für die olympischen Götter zu machen, um sie wieder zu versöhnen. Das soll ich euch melden.“

Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Die große Göttin schützt sie alle wirklich sehr.

„Steht auf, Bote! Meldet dem Minos von Kreta, dass wir alles tun werden, um das Fest zu einem Ereignis zu machen, an dem die Götter ihr Wohlgefallen finden können.“

Als der Bote sich wieder entfernt hat, fallen sich die jungen Frauen in die Arme. Trotz der Katastrophe keimt ein zartes Glücksgefühl in ihnen. Und Europa nimmt sich ein Herz und spricht zu allen:

„Ihr Lieben! Die große Göttin hat wohl Großes mit uns vor. So wollen wir sie nicht enttäuschen und werden von heute ab jeden Tag üben, üben, üben. Dann wird euer Tanz nicht nur Archaikos, den Ratsherren und allen Kretern gefallen, sondern auch ihr, der großen Göttin. Sie wird uns die Kraft geben, etwas besonderes, unvergessliches zu schaffen, über das noch nach vielen Generationen gesprochen werden wird. Wir sind dafür von ihr auserwählt worden. Was für ein Glück. Da kommen nicht nur ihr selbst, sondern auch den Priesterinnen und der Hohenpriesterin die Tränen. Glückstränen.

03 Mai

Europa – Meditation # 335

Der Angela-Merkel-Erinnerungs-Wert.

Wo sind sie geblieben, die sechzehn Jahre Kanzlerschaft? Oder war es vielleicht doch nur eine nachhaltige Einbildungsgeschichte, die da in unseren Gehirnwindungen Klimmzüge vollführte – schön ruhig gestellt, alternativlos und nachhaltig. Und die Lock-downs? Etwa auch nur ein böser Traum, in dem ein übles Hauen und Stechen mit Zahlen, Tabellen und Masken als schräges Ballett aufgeführt wurden? Dann endlich mal wieder ein spannender Wahlkampf mit überraschendem Ausgang. Und jetzt dieser spezielle Action-thriller-Gewalt-Film (als bunte Standbilder mit dräuenden Rauchsäulen im Hintergrund), den wir jeden Abend – nach wie vor übergewichtig und Zucker-versaut lümmelig vor der Glotze – über uns herabrieseln lassen, aber gleichzeitig endlich wieder das wirkliche Leben Seite an Seite im ausverkauften Stadion feiern können? Auch das nur eine virtuelle Variante des brandneuen M e t a v e r s e ? Oder war das nur das Intro dazu?

Die Antworten auf diese Fragen können wir gerne schön gefiltert in unseren eigenen Blasen – mit Daumen nach oben – abrufen und an unsere Freunde weiterleiten. Da sind wir – wie im Stadion – unter uns, unter Freunden, die schon wissen, was Sache ist. Wer da stänkert, wird einfach gelöscht. Punkt. Gehört nicht in unsere Gruppe. Die bestimmt nämlich auch, was unsere Wahrheiten sein sollen. In Dauerschleife bestätigen wir uns das, was wir schon längst als richtig und wahr erkannt haben. Und prägt sich so ordentlich ins Langzeitgedächtnis ein. Und wird so wahrer und wahrer.

Und immer wieder sind es Fotos von markanten Gesichtern, die wir uns einprägen: Angela Merkel, Donald Trump, Boris Johnson, Wladimir Putler, Wolodymyr Selenksyj oder das alte Gesicht von Anna-Lena Baerbock vor der Wahl und das neue von ihr von heute. Fast könnte man meinen, wir wechselten die Sympathien für die jeweiligen Physiognomien wie unsere Socken. Heute die, morgen die. Aber es muss sich gut anfühlen. Unser Gefühl will Angenehmes schmecken. So sorgen wir dafür, dass es angenehm schmeckt.

Und mit Konrad Adenauer – der nun auch noch in die Schlagzeilen und unter die Räder der Rechercheure geriet (den politischen Gegner ausspionieren lassen!) – lässt sich gut munkeln:

„Meine Herren, es kann mich doch niemand daran hindern, über Nacht klüger zu werden.“

Das Medium Film hat uns alle in den letzten Jahren ordentlich konditioniert:

1. Die Story muss kurz, brutal und spannend sein.

2. Die Schnitte schnell und atemberaubend.

3. Die Musik mitreißend und überwältigend.

Die Ereignisse der letzten Zeit waren kurz und spannend, die Wechsel der Figuren und Themen schnell und atemberaubend und der Sound einfach nur umwerfend. Was denn noch?