11 Jul

Europa – Meditation # 350

Kommt Krieg auf leisen Sohlen – oder mit Pauken und Trompeten?

Krieg und Frieden. Jede Generation kann sich da die widersprüchlichsten Geschichten erzählen, immer steht man selbst auf der Seite der Guten, die anderen sind meistens die Bösen – schon immer. Hab ich doch gewusst. Sag ich doch schon immer.

Rückblickend zeigt sich in Europa jedoch ein eigenartiges „Phänomen“: im Nachhinein pflegen die Zeitgenossen zu sagen: „Da hat doch keiner mit gerechnet, das kam für uns wie aus heiterstem Himmel.“

Wenn man allerdings genauer auf dieses „das“ schaut, dann war in allen nationalen, wie internationalen Krisen die Zeit vor dem Kriegsausbruch sehr wohl als Pulverfass zu erkennen.

Das war 1870 so – die Emser Depesche ist da nur der letzte Tropfen auf einem heißen Stein. Es war keine Überraschung. Im Nachhinein – wohl vor allem um die eigene Position rein zu waschen – ist es der „Feind“, der provoziert hat.

Das war 1914 so – das Attentat von Sarajewo ist da nur der vorletzte Tropfen auf den heißen Stein. Es war überhaupt keine Überraschung. Die Option Krieg war nicht nur in den Medien weit vor 1914 sehr gesellschaftsfähig.

Das war 1939 so – die Sudetenkrise ist da nur einer der vielen Tropfen auf einem glühenden Stein. Der Überfall auf Polen reißt die Sommergäste an Ost- und Nordsee zwar aus Revanche-Phantasien für 1918 unsanft heraus, aber das Kriegsvokabular war nicht nur in den Medien en vogue.

Das war 1992 so – die Serben in Belgrad schütten da nur einen weiteren Tropfen auf den heißen Stein. Selbst für die UN ist der Krieg in Bosnien-Herzogowina keine Überraschung und der Sebrenica-Genocid im Kriegsgeschrei schon fast herauszuhören.

Das war 2001 so – als die Amerikaner in Afghanistan eine sogenannte „Intervention“ anführen, um den Islamismus „an der Wurzel“ zu bekämpfen und westliche politische Werte zu importieren. (Wie nannte Putin seine Intervention in der Ukraine? „Militärische Spezial-Operation“) – seit 2014 brodelte da schon der Konflikt zwischen Kiew und Moskau.

Das war 2003 so – als die Amerikaner ihre große „-Befreiungs-Kriegs-Walze“ in Gang setzen, zusammen mit einer „Koalition der Willigen“, um den Irak von einem Diktator zu erlösen und die Segnungen westlicher Demokratien einzuführen

Das ist 2022 so – als die ehemaligen Verbündeten im 2. Weltkrieg, die unversöhnlichen Gegnern im Kalten Krieg, Russland und Amerika, nach 1989 fast auf dem Weg zu Bündnispartnern, nun erneut unversöhnliche Gegner sind, für die die Option Krieg eine unter anderen ist – mit und ohne A-Waffen.

Die ideologischen Scheuklappen sollten den Zeitgenossen nicht die Augen vor der drohenden Gefahr verschließen, denn sie ist durchaus real. Also genau hinschauen und hinhören, Frieden ist harte und bewusste Arbeit!

10 Jul

Europa – Meditation # 349

„Wir erleben eine Zeitenwende“ (Olaf Scholz)

Das war im Februar, im Bundestag, also sozusagen ex cathedra diese kurze Parataxe per Mikrofon und bundesweit viral vervielfacht bescheiden in die Welt hallte und seitdem in einem Dauerton echot und echot.

Und der Olaf Scholz setzt sogar noch einen obendrauf: das bedeute,

„die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“

Was für eine Plattitüde, was für ein leer drehender Satz, was für eine selbstverständliche Erfahrung eines jeden von uns seit jeher!

Ähnlich pathetisch formulierte Sätze gab es auch 1914 „Wir sind umgeben von einer Welt von Feinden!“ und 1933 „Jetzt beginnt einen neue Epoche!“ und 1990 „Ein Geschenk der Sieger an die Besiegten“ oder 2001 „Der Kampf gegen den großen Leviathan – das Böse hat seine Fratze gezeigt“ oder auch 1949 „Wer noch einmal eine Waffe in die Hand nimmt“, hatte Franz Josef Strauß 1949 gesagt, „dem soll die Hand abfallen.“ (Später wird er dann gerne Verteidigungsminister)

Da das Chaos der Wirklichkeit – oder das, was wir dafür halten – zu schnell und zu opulent die Zeit im Dauer-Würge-Griff hält, versuchen die Erdlinge dem Augenblick trotzig Dauer zu verleihen und erfinden so ein Narrativ nach dem anderen, das es denkend ermöglichen soll, mit Hilfe aufwendiger Erzählungen und Bilder nicht nur Ordnung, Übersicht und Gewissheiten zu schaffen, sondern auch dem Tempo des Seins machtvoll in den Arm zu fallen und zum Stillstand zu zwingen. Scheinbar.

Dass aber ein ernst zu nehmender Vertreter der repräsentativen Demokratie, ein Vertreter der Exekutive, solche Leerformeln bemüht, um 100 Milliarden Euro für Aufrüstung aus dem Hut zu zaubern, macht schon zumindest nachdenklich. Oder?

Als sei ein Moment vom Himmel gefallen – wie ein Meteorit – der bisher tabuisiertes politisches Handeln sozusagen zwangsweise zwingend notwendig macht. Dem lässt sich keine Gegenrede entgegen halten, dem lässt sich nur patriotisch zustimmen:

„Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ 1914

Oh, pardon, da ist der Schreiber unversehens in die falsche Schublade geraten, hat sich mehr oder weniger um ein Jahrhundert vertan. Kann ja passieren – bei diesem Tempo – die Abwesenheit von zutreffender Wirklichkeitsbeschreibung ist aber damals wie heute nüchtern zu konstatieren.

Als mündige Bürger sollten wir uns 2022 einfach nicht mehr mit solch kindlichen Sätzchen abspeisen lassen. Putler hin, Putler her.

09 Jul

Europa – Meditation # 348

Lässt sich Vertrauen delegieren?

„Politik als Beruf“ – sind wir nicht alle Polis-tiker, also aktive Mitglieder der Polis, die sich nicht vertreten lassen müssen, weil sie direkt mitbestimmen können? ( ca. 150 – plus/minus – Menschen kann unser Gedächtnisapparat wohl speichern und abrufen, wenn er will; mehr geht nicht ((Harari)..

Das Demokratievertrauen in den Massengesellschaften bröselt, die Mitmensch-Motivation ist niedrig, und immer weniger Menschen wollen in Parteien (und maroden Kirchen) eintreten oder sich von ihnen vertreten lassen.

Denn: die Verabredung, Interessen vertrauensvoll im Sinne der Wähler zu vertreten, erweist sich als ein schlechtes Ammenmärchen, an das niemand mehr glauben will.

Zu viele dieser Vertreter – auch in Interessenverbänden – wirtschaften vor allem in ihre eigenen Taschen und Immobilien. Die Korrumpierbarkeit lässt jede moralische Kategorie ziemlich alt aussehen. Die Lüge ist der Kit, der die Kluft zwischen moralischem Anspruch und individueller Gier übertüncht. Die Parteiendemokratie ist längst an ihr unrühmliches Ende gelangt: Jovial schiebt man sich die Jobs zu und lässt sich die Altersvorsorge mit Boni anfüllen. Mündliche Absprachen – zwischen Tür und Angel – stellen dabei sicher, dass die Öffentlichkeit umsonst um Transparenz und kritische Begleitung buhlt (s. Blattner und Platini, von Infantino ganz zu schweigen – oder Krisenmanagement im Ahrtal). Aus all dem quillt nun aus allen Poren die Politik-Verdrossenheit – ein lieb gewonnener Dauerbrenner, der von den Angegriffenen gerne thematisiert wird; als wären sie die Saubermänner und die faulen Äpfel natürlich immer der politische Gegner – ein bleiernes Gefühl, das Erholung sucht im digitalen Dauerfeuer.
In den schnell gestrickten TV-Serien wird dann sowohl die Verdrossenheit des Wählers wie die Korruption der politischen Kaste unbarmherzig zu Tage gefördert – man legt den Finger in die faulende Wunde – und lässt den müden Zuschauer mit einem faden Gefühl zurück, dass der Sündenpfuhl ungestraft in seinem eigenen Gestank sich einfach weiter suhlt.

Abnehmende Wahlbeteiligung, Parteien, die sich in Flügelkämpfen selbst zerlegen und exponierte Politiker (Trump und Johnson z. B.), die ihre eigenen Lügengeschichten viral werbewirksam vermarkten, tragen Tag für Tag dazu bei, dass der vereinsamte Zeitgenosse alle Lust auf Vertrauen fahren lässt und lieber ins Zocken oder Hacken flieht, um nicht mehr die Ohren voll gepustet zu bekommen mit Wahlslogans, die leer drehen und nur Produktwerbung schlecht kopieren.

Brot und Spiele – heutzutage dann eben Hamburger, Fritten und Fußball – sind die Pseudo-Opiate des Volkes – die Kirchen mit ihren Missbrauchshintergrundgeräuschen sowieso nur noch eine traurige Lachnummer verklemmter Männer. Wie kann man da Demokratie als beste alles Staatsformen guten Gewissens noch verkaufen?