Europa – Meditation # 355
„Träum weiter, Europa!“
Wachsendes Wachstum war bisher ein kühner Wechsel auf die Zukunft, der suggerierte, dass jeder Tag wie der vorhergehende sein würde, nur eben ein bisschen mehr von allem dazu. So konnten wir Europäer glauben, dass wir alles richtig machen, wenn man nur ehrgeizig und unverfroren genug war, dem Konkurrenten zuvorzukommen. Und bezahlen würde man den Wechsel natürlich ohne Probleme, später, weil ja weiteres Wachstum weitere Gewinne versprach.
Nun ist dieses Märchen unversehens auf den Prüfstand gestellt:
Finanzkrise, Bildungskrise, Klimakrise, Virenkrise, Kriegskrise; Energiekrise, Geldkrise – lauter Lego-Steine, die aufeinander gestapelt auf einmal bedenklich zu wackeln beginnen. Oder stürzen sie schon wie ein Kartenhaus in sich zusammen?
Haben die Europäer dank ihrer potenten Krakenarme nach Afrika, Asien und Amerika einfach nicht sehen wollen, was dieser radikale Raubbau mit dem Globus macht? Hatten sie nicht stattdessen frisch, fromm, fröhlich und frei Amerika und China für einen Absatzmarkt ohnegleichen gehalten und gleichzeitig große Teile der Produktion ausgelagert, um im kleinen Europa nur noch on demand die Endmontage zu gestalten? Kostengünstig und Gewinn bringend? Neo-Liberalismus lautete die Zauberformel.
Die Börsenkurse gaben ihnen scheinbar recht, denn die gingen höher und höher. Dabei war es doch nichts anderes als die Spekulation auf eine Traumfassung von Wachstum – also eine virtuelle Blase in einem virtuellen Traum der sowieso schon Wohlhabenden; die Abgehängten dürfen währenddessen in opulenten Serien Traumbilder konsumieren, damit sie glauben können, sie gehörten dazu.
Aufgeschreckt sollen nun die Politiker von heute auf morgen die Rezepte liefern – aber dalli, dalli! – die ein unangenehmes Erwachen aus dem Wachstumstraum verhindern sollen. Um jeden Preis. Als ließe sich das Chaos, das das Marktgeschehen unter kapitalistischen Rahmenbedingungen in Wirklichkeit schon immer war, plötzlich als berechenbares Szenario in Häppchen schneiden, die man als Herr im Haus der Krisen einfach weiter Gewinn bringend verschlingen könnte, ohne Verdauungsprobleme zu bekommen.
„Träum weiter, Europa!“ ruft uns die weitsichtige Frau (denn das ist die Übersetzung des Namens Europa aus dem Griechischen) ironisch zu: „träum weiter!“