13 Sep

Europa – Meditation # 355

„Träum weiter, Europa!“

Wachsendes Wachstum war bisher ein kühner Wechsel auf die Zukunft, der suggerierte, dass jeder Tag wie der vorhergehende sein würde, nur eben ein bisschen mehr von allem dazu. So konnten wir Europäer glauben, dass wir alles richtig machen, wenn man nur ehrgeizig und unverfroren genug war, dem Konkurrenten zuvorzukommen. Und bezahlen würde man den Wechsel natürlich ohne Probleme, später, weil ja weiteres Wachstum weitere Gewinne versprach.

Nun ist dieses Märchen unversehens auf den Prüfstand gestellt:

Finanzkrise, Bildungskrise, Klimakrise, Virenkrise, Kriegskrise; Energiekrise, Geldkrise – lauter Lego-Steine, die aufeinander gestapelt auf einmal bedenklich zu wackeln beginnen. Oder stürzen sie schon wie ein Kartenhaus in sich zusammen?

Haben die Europäer dank ihrer potenten Krakenarme nach Afrika, Asien und Amerika einfach nicht sehen wollen, was dieser radikale Raubbau mit dem Globus macht? Hatten sie nicht stattdessen frisch, fromm, fröhlich und frei Amerika und China für einen Absatzmarkt ohnegleichen gehalten und gleichzeitig große Teile der Produktion ausgelagert, um im kleinen Europa nur noch on demand die Endmontage zu gestalten? Kostengünstig und Gewinn bringend? Neo-Liberalismus lautete die Zauberformel.

Die Börsenkurse gaben ihnen scheinbar recht, denn die gingen höher und höher. Dabei war es doch nichts anderes als die Spekulation auf eine Traumfassung von Wachstum – also eine virtuelle Blase in einem virtuellen Traum der sowieso schon Wohlhabenden; die Abgehängten dürfen währenddessen in opulenten Serien Traumbilder konsumieren, damit sie glauben können, sie gehörten dazu.

Aufgeschreckt sollen nun die Politiker von heute auf morgen die Rezepte liefern – aber dalli, dalli! – die ein unangenehmes Erwachen aus dem Wachstumstraum verhindern sollen. Um jeden Preis. Als ließe sich das Chaos, das das Marktgeschehen unter kapitalistischen Rahmenbedingungen in Wirklichkeit schon immer war, plötzlich als berechenbares Szenario in Häppchen schneiden, die man als Herr im Haus der Krisen einfach weiter Gewinn bringend verschlingen könnte, ohne Verdauungsprobleme zu bekommen.

„Träum weiter, Europa!“ ruft uns die weitsichtige Frau (denn das ist die Übersetzung des Namens Europa aus dem Griechischen) ironisch zu: „träum weiter!“

07 Sep

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 144

Hephaistos findet den Plan seines Bruders undurchführbar.

„Na, dann lasst uns mal in seine Schmiede gehen, Brüder!“ säuselt Zeus leise – er will nämlich auf keinen Fall, dass die dreimal kluge Athene Wind von seinem genialen Plan bekommt; die würde bestimmt wieder irgendetwas dagegen einzuwenden haben, da ist sich der Göttervater ganz sicher. So steigen Zeus, Poseidon und Hades klamm heimlich vom Olymp herab – sie kennen natürlich alle unterirdischen Geheimgänge von früheren Versteckspielen her, als sie noch jung und übermütig waren und Rhea, ihre Mutter, sie immer wieder zurückpfeifen musste.

„Seid ihr verrückt oder was? Wisst ihr denn nicht wie glühend heiß es da unten ist, ihr Dummköpfe?“ hatte sie gepoltert und geschimpft. Das waren noch Zeiten! Da gab es solche selbstgefälligen Menschen wie diese eitle Europa noch gar nicht, geht es beim Abstieg Zeus durch den Kopf. Aber im Augenblick ist er bester Laune, denn sein Plan – Kreta mittels eines Unterwasservulkanausbruchs samt nachfolgender Riesenflutwelle zu verschlucken – ist einfach unwiderstehlich klug, unbarmherzig strafend und die Verhältnisse zwischen Göttern und Menschen wieder klar stellend.

Es wird heißer und heißer, die Brüder schwitzen, als sie jetzt vor der Schmiede von Hephaistos stehen. Der hämmert gerade mit einem riesigen Hammer auf seinem Amboss herum, dass es nur so grell klingelt und die Funken fliegen. Die große Werkstatt unter der Erde lässt dazu an den Wänden einen furchterregenden Schattentanz aufführen.

„Hallo, Bruder, was machst du denn da?“ schreit Zeus in den metallen klingenden Lärm hinein. Er muss aber seine Frage noch ein paar Mal stellen, bevor Hephaistos den Hammer aus der Hand legt, sich schweißgebadet zu ihnen umdreht und staunt:

„Ach nee, die lieben Brüder! Und gleich alle auf ein Mal!“

Die Brüder klatschen sich ab und kommen dann aber auch gleich zur Sache, denn Hephaistos hat überhaupt keine Zeit, seine Auftragsbücher sind übervoll und er kommt kaum hinterher.

„So, so“, sagt er schließlich, nachdem Zeus seinen genialen Plan ausführlich vorgestellt hat, „so, so. Du willst also die ganze Insel fluten? Habe ich das richtig verstanden? Weil diese Europa bestraft werden muss, richtig?“

„Genau, Bruder, genau!“

„Tja, dann wird da wohl nichts draus, mein Lieber. Die Kreter sind meine besten Kunden, die werde ich doch nicht selber abschaffen, nee, nee!“

Zeus hält die Luft an. Das darf doch wohl nicht wahr sein, denkt er.

03 Sep

Europa – Meditation # 354

Gorbi – Knete

Ist es unsere Vergesslichkeit oder ist es doch eher reiner Mutwille, wenn wir immer wieder unsere eigene Wahrnehmung überarbeiten, überzeichnen und schön färben?

Da in der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so einiges schief gelaufen war – moderat formuliert – hatten wir Deutsche uns im schweigsamen Büßerhemd den Siegern willfährig unterworfen: Im Westen den Amerikanern, im Osten den Russen. Die ideologische Marschrichtung schlürften wir süffig mit – entweder Wachstum um jeden Preis weltweit oder eben Überwindung dieses Wachstums-Mantras im endgültigen Sieg der Arbeiterschaft weltweit. Wir Deutsche waren brave Claqueure des jeweiligen Herrn, dem wir reumütig dienen wollten. Der Böse war selbstverständlich immer der andere. Wie mit der Muttermilch wurde der Antikommunismus eingesogen, jeder Lehrplan lieferte die Lehrbücher für die richtige Einstellung im Westen, genauso wie der Klassenfeind im Osten für jeden jungen Sozialisten der Kapitalismus war.

Als aber der neue Generalsekretär Gorbatschow im März 1985 neue Töne anschlug, die schließlich zum unblutigen Fall der Berliner Mauer führten, drehten sich die Fähnchen im Winde gerne um. Plötzlich war Russland denkbar, auch im gemeinsamen Haus Europa dazu zu gehören. Wie bitte?

Gorbi und Raissa wurden so nach und nach geradezu zu Lichtgestalten, und unser Kohl kochte sein Süppchen mit Gorbi, als wären sie alte Klassenkameraden.

Dann wurden die Deutschen – gerade holter-die -polter wiedervereinigt – auch noch von Gorbi links überholt: der wollte doch tatsächlich der Opfer des politischen Terrors der Stalinzeit öffentlich gedenken, mit Andrej Sacharow als Vorsitzender der Organisation „Memorial“ .

Schon da gingen viele der ehemaligen erfolgreichen NS-Mitläufer in ihre Unterstände. Und die von der Treuhand wollten auch alles nur zum Wohle aller zerschlagen haben.

Nach sechs Jahren waren Gorbis Siebenmeilenstiefel dann zum Glück passé. Schwamm drüber.

Und dass er damals das Reaktorunglück von Tschernobyl verschweigen ließ und dass sowohl in Vilnius als auch in Tiflis die Schritte hin zurUnabhängigkeit gewaltsam nieder gemacht wurden, ist natürlich beim abschließenden Elogen-Gesang doch nur eine eher peinliche Fußnote.

Wir kneten uns unseren Gorbi schon so, wie er in unsere derzeitigen Wahrnehmungen passt.

Ähnlich wie mit unserem atlantischen Freund: eben noch trumpisch angeekelt und bereit, die alten Abhängigkeiten, die uns doch schon so weit von unserer eigenen kulturellen Identität haben abdriften lassen, empört abzuschütteln und Europa in den Mittelpunkt deutscher Außenpolitik zu stellen – also ein Art splendid isolation à la Europe – oder dann plötzlich doch wieder eine geradezu stahlharte Nibelungentreue zu beschwören (100 Milliarden Euro mal schnell aus der Portokasse) zu unserem großen Freund in Übersee. Was für ein Wankelmut, was für ein bigottes Lamentieren! Und falls Trump doch noch der nächste Präsident werden sollte? Was dann? Kneten wir uns dann ein trumpsches Maskottchen, um den bösen Russen und den unheimlichen Chinesen mit einer selbstlosen Nato widerstehen zu können?