16 Apr

YRRLANTH – Historischer Roman II – Blatt 178 – Leseprobe

Ein Mönch muss aufschreiben, was sich zugetragen hat.

Wenn die Götter und Dämonen, die lautlos über dem ehemaligen Gallien schweben oder in den Bäumen und Quellen alter Wälder bescheiden wohnen, jetzt zu Gericht säßen, um die zu strafen, die gerade in der Palastaula zu Augusta Treverorum ein Blutbad angerichtet haben, dann müssten sich die Täter auf ein strenges Urteil gefasst machen. Da sie sich aber mehr und mehr von dem mörderischen Treiben der Menschen enttäuscht zurückziehen, maßen sich die kleinen Erdlinge an, selbst zu Gericht zu sitzen. Ob da nun der Schuldige sitzt oder nicht, ein Urteil lässt sich immer aussprechen.

Jetzt sitzt Bodebert, der kurz vor der Hochzeit mit Avelina, der Tochter des getöteten Königs, steht, flankiert von den beiden Äbten Martinus und Anselmus im Kellergewölberaum des Amtsitzes von Flavius Baracus Dicus, dem städtischen Präfekten, und starrt die nur noch spärlich mit einem groben Laken bekleidete Somythall an. Gefesselt, aber sehr aufrecht steht sie da. Sie kann es immer noch nicht fassen. Ist es doch nur ein böser Traum? Sie muss von Dämonen besessen sein, denkt der Graf gerade. Wie könnte sie sonst so unerschrocken vor ihm stehen? Die Soldaten, die im Halbkreis um sie herum stehen, glotzen sie abschätzig und gierig zugleich an. Und die beiden Äbte – mit gefalteten Händen auf dem Tisch – starren weiter unverwandt auf die von Flecken übersäte Holzplatte vor ihnen.

„Bruder Gregor, schreibt jedes Wort genau auf!“ hallt gerade Bodeberts Stimme unheilverkündend durchs Gewölbe.

Bruder Gregor zuckt zusammen, nickt eifrig. Seine Hand zittert.

„Nun, Frau, da du dich durch deine ausweichenden Antworten selbst in Verruf gebracht hast, ist deine Glaubwürdigkeit sehr in Frage gestellt. Meine beiden Beisitzer, Abt Martinus und Abt Anselmus, werden dir nun ein paar einfach Fragen stellen. Deine Antworten werden alle aufgeschrieben, damit nichts verloren geht.“

Sein Grinsen ekelt Somythall an. Sie ist gespannt, was diese beiden Äbte sie denn fragen könnten.

Abt Martinus räuspert sich und beginnt dann so:

„Im Namen des Herrn Jesus Christus fordere ich dich auf, keine Lügen auszusprechen!“

Dabei lächelt er gönnerhaft und lässt seine Hände elegant umeinander kreisen. Immer wieder.

„Warum sollte ich lügen, ich habe nichts zu verbergen und nichts Verwerfliches getan!“ antwortet Somythall sofort. Der Schreiber schaut fragend den Abt und den Grafen an: Muss ich das aufschreiben, soll sein Blick wohl sagen. Der Graf würde am liebsten jetzt kurzen Prozess machen. Diese Frau bringt ihn noch zum Wahnsinn. Aber er hat sich für die freundliche Darbietung entschieden, also muss er jetzt einfach nur weiter lächeln und nicken. Ja, schreib alles auf.

„Gut, Frau. Sag uns doch, ob du unserem Herrgott, Jesus Christus treu Gefolgschaft leistest, das würde dich in deiner Glaubwürdigkeit wachsen lassen.“

Somythall ist für einen Augenblick verwirrt. Soll sie sagen, dass sie nur ihrer Göttin verpflichtet ist oder soll sie so tun, als wäre sie getaufte Arianerin?

„Die Frage, die ich doch eigentlich beantworten soll, hat mit meinem Glauben nichts zu tun. Ich war jedenfalls zur fraglichen Zeit in der Villa Marcellina und nicht in Lutetia.“

Der Abt ist sprachlos. Mit solch einer Antwort hat er wahrlich nicht gerechnet. Aber gut. Er will es noch einmal versuchen, er will dieser fremden Frau doch nur helfen.

„Nun, Frau, wann hat dich denn der König – möge er ruhen in Christo – zuletzt gesehen?“

Na, geht doch, denkt Somythall, das ist nicht schwer zu beantworten.

„Als Duc Rochwyn aus YRRLANTH vom König in Lutetia empfangen wurde, stand ich neben dem Duc und habe den König freundlich gegrüßt.“

Der Abt gibt dem Schreiber ein Zeichen: schreib das nur ja ganz genau auf, das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt, soll das wohl heißen. Der Schreiber schwitzt, seine Feder kratzt über das Pergament, als wäre sie auf der Flucht vor einem Aasgeier.

„Bruder Anselmus, wollt ihr noch eine Frage stellen?“ wendet sich Abt Martinus an den anderen Beisitzer. Dabei streift er den Blick des Grafen dazwischen und spürt, dass der überhaupt nicht zufrieden scheint mit seiner Befragung. Bruder Anselmus nickt und legt auch gleich los:

„Weib, wäre es nicht besser gewesen, vor dem König in die Knie zu gehen und ihn nicht anzublicken – als Fremde, als Frau?“

„Nein, das hätte dem König sicher nicht gefallen.“

Alle fränkischen Männer im Raum halten den Atem an. Sie sind entsetzt.

Abt Anselmus versteht nicht, was diese fremde Frau mit ihrer Antwort sagen will. Doch bevor er nachfragen kann, mischt sich nun wieder Graf Bodebert ein:

„Schön, schön, Frau. Wir sehen, dass du dich entschlossen hast, unsere Fragen nicht ernst zu nehmen. Damit erübrigen sich natürlich weitere Fragen. Denn du hast uns so eine klare Antwort gegeben: Ich will euch nicht die Wahrheit sagen. Schreiber, versieh dieses Verhör mit dem Datum des heutigen Tages und lass es mich dann unterschreiben!“

„Halt! Mit keinem Wort habe ich gesagt, nicht die Wahrheit sagen zu wollen“, erwidert Somythall sofort. Doch der Graf – mit einem unwirschen Kopfschütteln beantwortet er die wortlose Frage des Schreibers, ob er diesen Einwurf der Frau aufschreiben soll – unterbricht sie nun recht rüde:

„Schweig, Weib! Du machst es so nur noch schlimmer. Führt sie ab! Schon morgen soll vor dem Stadtpräfekten Flavius Baracus Dicus der Prozess wegen Mitwisserschaft an der Ermordung des Königs stattfinden. Bis dahin sollten in einer peinlichen Befragung die Namen der Täter offenbar gemacht sein. Führt sie ab!“

Somythall kommen vor Wut die Tränen. Göttin, Rochwyn, Julianus – wo seid ihr denn? Ich brauche eure Hilfe, jetzt, fleht sie in ihrem Innern. Schon packen sie recht unsanft die wachhabenden Soldaten – sie sind froh, sie jetzt von nah riechen und spüren zu können – und schleppen sie aus dem düsteren Raum. Der Graf und die beiden Äbte tuscheln noch eine Weile, während der Schreiber Sand über die noch feuchten Buchstaben streut.

12 Apr

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 159

Der Minos ist tot, es lebe der Minos!

Unheimlich und bedrohlich schwebt der wummernde dunkle Ton über der Stadt. Schlag auf Schlag. Nur zu diesem Ereignis wird der große Gong auf das flache Dach des Palastes geschleppt und dort von einem der Wächter des Minos von Kreta geschlagen. Immer wieder. Und bei jedem Schlag fliegen die aufgeregten Elstern empört davon und kehren nach einer großen Kehre über dem Meer zu ihrem Zuhause zurück, das sich so fürchterlich lärmend gebärdet. Immer wieder.

Auch den Menschen geht der tiefe Ton durch Mark und Bein. Immer wieder. Und man weiß Bescheid. Flüsternd und in beschwörendem Ton beantworten die Alten den kleine Kindern ihre bange Frage: „Warum dröhnt es so, warum macht der Minos das?“

„Die Götter holen ihn gerade ab!“

„Aber warum denn und wie?“

„Mit einem Wolkenwagen.“

Die Kinder verstehen es nicht. Doch die großen Augen der Eltern und der beschwörende Ton macht ihnen Angst.

Als die Dämmerung über der Insel Einzug hält, verebbt auch der düstere Ton über der Stadt. Ihre Einwohner kommen jetzt in schwarze Gewänder gehüllt aus ihren Häusern. Mit Fackeln in der einen und dem Kind an der anderen Hand gehen sie wortlos zum Platz vor dem Palast.

Später erscheinen auf dem Balkon drei Gestalten – um sie herum Fackelträger und Posaunenbläser. Da wird es still unter den Zuschauern. Ihre Fackeln sind fast abgebrannt. Die Kinder staunen, die Eltern geben keine Antworten auf ihre Flüsterfragen. Pst!

Schwarzes Tuch wird jetzt über die Brüstung des Balkons ausgerollt. Schlaff fällt es tief nach unten. Als wäre plötzlich dort der dunkle Eingang in eine geheimnisvolle Höhle. Wer wird hinein gehen, wer kommt heraus? Wenn doch jemand die bangen Fragen der Kinder beantworten würde!

Jetzt öffnen sich die großen Flügeltore. Fast lautlos treten die alten Ratsherren heraus. Sie bleiben unter dem lichtlosen, schwarzen Tuch, das sich nicht bewegt, schließlich stehen.

Posaunenton. Einer, dann noch einer, dann alle.

Europa hebt eine Hand hoch in den düsteren Himmel. Neben ihr die Zwillinge. Dann spricht sie langsam und mit fester Stimme:

„Archaikos, der Minos von Kreta, ist nicht mehr.“

Ein schmerzvolles Stöhnen geht durch die Menge, alle verneigen sich leise

seufzend und bald beginnt ein tiefes Summen, das rhythmisch aus ihren Kehlen kommt. Das haben die Kinder noch nie erlebt. Haben die das vorher geübt? Dann erhebt oben auf dem Balkon Europa, die Frau des Minos, ihre beiden Arme in den dunklen Abendhimmel und ruft mit lauter und bebender Stimme:

„Mitbürger! Wir werden ihn nach alter Sitte beisetzen.“

Dann macht sie eine lange Pause, lässt ihre Arme sinken und schickt dann den von allen mit Spannung erwarteten Satz hinterher:

„Bis die Zwillinge die Nachfolge antreten können, bin ich als ihr Vormund- so der letzte Wille des Minos – für euch die Stellvertreterin, Schützerin und Richterin.“

Die Stille ist fast unheimlich. Die alten Ratsherren, die gerne Protestschreie gehört hätten, Wutgeheul, können selbst vor Zorn kaum an sich halten. Aber sie müssen. Das Volk stimmt mit seinem Schweigen zu. So müssen sich die Alten fügen.

11 Apr

Europa – Meditation # 389

Leserbrief an die SZ – zu dem Artikel von Hubert Wetzel – „Realität verkannt“ / Nr. 83, Dienstag, 11. April 2023

Zwischen Dogmen und anderen nützlichen Sehweisen

Da habe also ein Europäer ein umfassendes Desaster angerichtet, sagt Herr Wetzel. Große Worte, große Vorwürfe. Aber natürlich von sicherem, logischen Boden aus, versteht sich.

Denn die lautere Interessen-Verbindung der USA und Europas wird selbstverständlich als gegeben – als Dogma sozusagen – hingestellt. Und natürlich werden große Bilder in den Raum gehängt: da habe jemand einen Keil zwischen die Beziehung der USA und Europa getrieben, ja, er habe sogar einen Graben quer durch Europa aufgerissen, es sei also ein immenser Schaden angerichtet worden. Jenseits der Superlative läuft ja sowie so nichts.

Und wie entsteht solch ein Überwältigungsgemälde? Ganz einfach: Man nehme einfach die Wirklichkeitsform (den sogenannten „Indicativ Praesens“) und reihe mit ihm Satz an Satz. Das Sprachgebilde gebärdet sich so im Handumdrehen zu einem wasserdichten Schutzdamm, einem Dogma, gegen etwaige Fragen, Zweifel, Einwände, Alternativen. Oder das immer für Sicherheit im Denken garantierende Schwarz-Weiß-Sprachmodell: Hier die Freunde, die treu zu einander stehen und dort die Ungetreuen, die Zwietracht säen – aus reinem Mutwillen oder kurzschlüssigen Schnellschüssen. So einfach scheint das beim ersten Lesen. Nimmt man sich aber die Zeit zum Nach-Denken und erneutem Lesen, dann beginnt die biedere Wirklichkeitsform der Sätze ins Wanken zu geraten: Könnte es nicht sein, dass es bloß gewohnte Denkmuster sind, die wie eiserne Gleise, die politische Wahrnehmung auf Linie halten – Europa, die NATO und die USA als Bollwerk wider die Gefahren aus dem Osten? Muss man nicht einfach groß denken angesichts so großer Bösewichter im globalen Maßstab? Und werden dann biedere nationale Interessen nicht allzu gern klein geredet? Oder das Lehrstück vor der UNO, als Bilder vorgeführt wurden, die einen Präventivschlag für unabänderlich – oder im Merkel-Jargon für „alternativlos“ – erscheinen ließen? Schon vergessen? Damals war nichts mit Nibelungentreue – jetzt möchte man sich gerne damit schmücken. Die scheinbar logischen Klickklacks internationaler Verwicklungen können so schön glatt gebügelt werden. Scheinen doch selbst jedem Kind einzuleuchten.

Wäre es nicht zumindest erwägenswert, die amerikanischen Interessen im asiatischen Raum nicht zu unterschätzen und auch uns Europäern zu gestatten, solche Interessen nicht als auch europäische darzustellen, nur um der Nibelungentreue nicht gegen das Schienbein zu treten? Sollten wir Europäer nicht eher – angesichts einer langen Geschichte der Domestizierung unter europäischer Dominanz weltweit – in den Windschatten des Zeitgeistes treten und Ansätze in diese Richtung nicht gleich als Defätismus diffamieren? Könnte in der Zukunft nicht vielleicht sogar das kleinere Format das erfolgreichere werden – jenseits hegemonialer Spiegelfechtereien? Und da wären die USA sicher nicht das geeignete Vorbild für Europa, haben die uns doch nach dem Zweiten Weltkrieg zu braven Konsumenten und Wachstumsaposteln geduldig bekehrt und konditioniert. Vielleicht hat Macron gar nicht „außenpolitisch seinen Bankrott erklärt“, sondern – wie einst der alte Cato unermüdlich nur wiederholt – Europa solle lernen, zu einer eigenen europäischen Politik zu stehen, jenseits amerikanischer Interessen.