05 Apr

Europa – Meditation # 388

Die Demütigungs- und Kränkungserzählung blüht weiter.

2023

Gerade zu Ostern, wo Friedenstexte ordentlich Konjunktur haben, passt es doch ausgezeichnet, wenn auch ein paar Brosamen für unsere Brüder und Schwestern drüben mit abfallen.

1919

Im Deutschen gibt es den Begriff D i k t a t f r i e d e n .

Schon im Begriff schlummert der Unfrieden weiter.

Beladen mit heftigen Gefühlen. Von gekränktem Stolz, von Erniedrigung, von schlimmen Lügen. Im historischen Gedächtnis bis heute sehr unterschiedlich aufbewahrt.

1990

33 Jahre ist es her – so alt war doch auch der Wanderprediger damals am Jordan, als er von Versöhnung, Frieden und Eintracht fleißig predigte – seit die getrennte Großfamilie Deutschland friedlich wieder vereint ist (dank der müden Großmächte, die für einen Moment keine Lust mehr zu haben schienen auf Vorherrschaft, alte Rechnungen und Konflikte).

Es gibt auch immer einen dritten Weg – das war 1953 so, als die Mitte Europas für einen Moment auch als neutrale Brücke zwischen dem Osten und dem Westen denkbar schien und das war auch 1989 so, als dieselbe Mitte zu einem dritten Weg hätte aufbrechen können; mit einer gemeinsam geschriebenen neuen Verfassung, in dem die besten Ideen aus zwei völlig verschiedenen Denkansätzen verschmolzen wären – jenseits der ehemaligen ideologischen Blöcke. Aber diese Wege wurden nicht beschritten. Stattdessen „trat die DDR der BRD bei“. Das Volk wurde nicht gefragt. Damit verschwanden auch die Ideen des sogenannten „Runden Tisches“ sang- und klanglos in der Versenkung.

Die Folgen dieses hastigen „Beitritts“ erleben wir bis heute. Demontage – erinnert irgendwie an die Zeit nach dem ersten und dem zweiten Weltkrieg. Die Sieger ließen demontieren. Nur sind es diesmal die Deutschen selbst, die die Deutschen demontierten. Im wahrsten Sinn des Wortes:

„Erst haben wir euch euer Land weggenommen, dann die Arbeit, schließlich die Frauen“ – klingt das nicht, als sabbere ein alter Kolonialherr über seine Erinnerungen, die ihn zwar manchmal auch plagen, die er aber auch genießt wie ein Aphrodisiakum?

So fühlten sich die anfangs euphorisierten Schwestern und Brüder wie wirkliche Schwestern und Brüder – wenigstens für ein paar Wochen – bis ihnen nach und nach dämmerte, dass sie nicht nur über den runden Tisch gezogen worden waren, sondern dass man sie – die sich 40 Jahre als klassenlose Gesellschaft versucht hatten zu fühlen – zu Menschen zweiter, dritter Klasse degradierte. Gnadenlos, gesichtslos. Die Rechtssprechung „Rückgabe vor Entschädigung“ und die neue Währung erledigten das automatisiert. Den jungen Frauen blieb nur die Abwanderung, die jungen Männer fuhren entweder unerfahren gegen Alleebäume oder flüchteten unter Mutters Rock oder unter die Flagge derer, die für massiven Gegenwind Stimmung machten und machen. Oder wurden Drogenfans. Großflächig wurde so gesellschaftliche Teilhabe oder gar Mitgestaltung verunmöglicht.

Die angekündigten „blühenden Landschaften“ sind inzwischen menschenarme Liegenschaften fremder Eigner, die nichts anderes im Sinn haben als Profitmaximierung. Ironie des Schicksals? Der ehemals als Klassenfeind nieder gesungene Bruder spielt nun selber die erste Geige, gnadenlos.

Arbeitslosigkeit und Altersarmut gehen Hand in Hand durchs alte Land, das sich nun nur noch als touristische Attraktion gewinnbringend für betuchte Fremde anbiedern darf, wenn überhaupt.

Und darunter köchelt weiter – sprachlos, wie nach Ende des Zweiten Weltkriegs schon einmal – die Demütigungs- und Kränkungssuppe: Die einen, die trotz ihrer menschenverachtenden Machenschaften mit weiß gewaschenen Westen einfach in ein neues – vorzugsweise verbeamtetes – Leben übersiedelten und nun die Rentenpolster genüsslich absitzen, die anderen, die schwer traumatisiert nicht nur nicht ihr eigenes Leben in den Griff bekommen können, sondern sich darüber hinaus auch randständig noch als Versager verständnisvoll anlächeln lassen müssen.

In der Ukraine ist Krieg.

In Deutschland nicht. Es sei denn, man bezeichnet das, was hinter den Kulissen ausgetragen wird, ebenfalls als Krieg.

Dafür gibt es bloß einen neuen D i k t a t f r i e d e n.

Hier werden die Sieger und Verlierer viel wirkungsvoller voneinander geschieden: An der Oberfläche sollen sie wie eine Einheit wirken (das ununterbrochene Unterhaltungsprogramm samt social media ist die Zauberdroge dabei), aber alles, was da drunter vor unglaublicher Zerrissenheit so lange schon lautlos schreit und schreit – da können die klerikalen Profis von den Kanzeln zu Ostern säuseln wie sie wollen – bleibt individualisiert als individuelle Abweichung von der nicht befragbaren Norm der hyperventilierenden Verbraucher. Frohe Ostern!

04 Apr

YRRLANTH – Historischer Roman II – Blatt 177 – Leseprobe

Solch ein Gemetzel hat die alte Palastaula noch nie gesehen.

Rochwyns Männer rasten aus: Kaum hören sie den Befehl des Grafen Berowulf: „Führt sie ab!“, da stürmen sie auch schon nach vorne, wollen ihre Schutzbefohlene aus der Hand der Wächter befreien. Auch die bunte Truppe will beweisen, dass sie treu zu Duc Rochwyn und dessen Vermächtnis stehen: Bringt sie heil zurück nach YRRLANTH!

In dem Gewühl und Geschrei ist aber der schlimmste Ton der eines kleinen Mädchens: Sumila schreit sich vor Angst die Seele aus dem Leib. Pippa vermag sie nicht zu trösten. Während Somythall brutal zu Boden gedrückt wird – um sie herum stehen mit langen Piken sechs Wächter, zwei halten ihr die Arme und Beine fest – versucht sie weiter vergeblich um sich zu schlagen und zu treten. Somythall hört die Schreie von Rochwyns Männern. Es sind Verzweiflungsschreie. Graf Berowulf steht wie eine Statue auf dem Podest. Er weiß, sein Plan läuft nach Plan. So muss er auch nichts mehr sagen. Seine Männer, die alle unter ihren Mänteln Kurzschwerter verborgen hatten, stechen nun gezielt zu. Einer nach dem anderen der fremden Kämpfer geht röchelnd zu Boden. Somythalls Getreue sind in Unterzahl. Dazwischen schreiende Frauen und Männer, die am Morgen hierher gekommen waren, um einem Schauprozess beizuwohnen. Mit so etwas hatte niemand gerechnet. Und in all dem Chaos das Herz zerreißende Geschrei von Sumila. Sie scheint zu spüren, dass ihre Mutter in großer Gefahr ist. Jetzt fangen selbst die schwarzen Vögel oben unter dem Holzdach krächzend zu kreischen an. Sie laufen aufgeregt auf dem Sims hin und her. Das Geschrei der Menschen da unten passt ihnen ganz und gar nicht.

Die Grafen und Bischöfe am langen Tisch auf dem Podest vorne haben sich ebenfalls erschrocken erhoben. Sie spielen die völlig Überraschten. Dabei kennen sie den Plan: Wir brauchen ein starkes Feindbild. Wir müssen davon ablenken, dass wir weiter ohne gefangene Täter sind. Wir brauchen einen Ersatz dafür. So hatte es gestern Abend Graf Berowulf gesagt. Und alle hatten zustimmend genickt. Dabei geht in den Köpfen der Franken sowie so viel mehr die Frage um, wer wird der nächste König sein?

01 Apr

YRRLANTH – Historischer Roman II – Blatt 174 – Leseprobe

Die Fischer am Ufer der Sequana wissen wie immer Bescheid.

Während in Augusta Treverorum der Kronrat des Frankenreichs den Prozess gegen die noch unbekannten Mörder des Königs vorbereitet, die Tage wärmer und wärmer werden – das frische Grün auf den Feldern sehnt sich vergeblich nach Regen – sind in Lutetia die Fischer wie jeden Tag damit beschäftigt, mit ihren kleinen und großen Schleppnetzen Beute aus der Sequana zu ziehen.

„Sag ich doch!“ bellt Herquardt seinen Nachbarn an.

„Ach was, die Söhne habe ich heute morgen doch gesehen, wie wie mit Graf Berowulf davon ritten°, bellt Wultart zurück.

„He, passt auf, das ist meine Stelle!“ krächzt Onembas wütend.

„Ja, ja – du und deine Stellen, ist ja gut!“ versucht Wultart zu schlichten. Als er jetzt sein Netz an Land holt, beginnt er laut zu lachen: Ein guter Fang, gleich beim ersten Mal. Onembas verdreht die Augen und wechselt das Thema:

„Der Truchseß ist einfach abgehauen; das macht den doch sehr verdächtig – oder?“

„Der Bardov? Der hat Angst bekommen, dass er auch dran glauben muss!“

„Du musst es ja wissen, Herquardt, du kennst ihn ja persönlich – stimmt‘s?“ stichelt Wutart dagegen. Guter Witz, denkt Onembas.

„Und? Wer sind denn deiner Meinung nach die Mörder?“

„Mörder? Woher weißt du denn, dass es mehrere waren?“ fragt Onembas listig.

„Genau, genau!“ pflichtet ihm Wutart bei.

„Der Bader hat von zehn Einstichen gequatscht!“

„Der Bader! Der macht sich doch nur wichtig!“

„Außerdem kann einer auch mehrmals zugestochen haben – oder?“ Herquardt findet, dass er richtig klug dazwischen geht.

„Jedenfalls werden die Herren Grafen schon jemanden finden – ganz gleich, ob er es war oder nicht. Die Leute hier in Lutetia wollen endlich wieder jemanden gevierteilt sehen – nach der Burgunderin!“

Unseren Fischern läuft es wohlig den Rücken runter. So lange sie nicht selber dran glauben müssen, erscheint ihnen eine Vierteilung für einen Königsmord das Mindeste.