09 Mai

Europa – Meditation # 393

Es gibt nie genug Theater!

Träumen kann man in den social medias, die Wirklichkeit aber halten wir stattdessen für eine widerspenstige Baustelle und Dauerkrise: Sie will sich einfach nicht unseren schlichten Mustern beugen.

Am deutlichsten wird das in dem, was wir Demokratie oder Theater nennen.

So ein Theater! Zum Beispiel Bayern: Welche Lobby sollte man im Wahlkampf hofieren? Atomkraft. Und schon feiern die Medien ein neues Fest: Wer ist der stärkste im ganzen Land? Frau Holle! HÄ? Wie bitte? Oh, da ist wohl etwas durcheinander geraten.

Wirklichkeit und Fiktion. Besonders in demokratisch verfassten Staaten geht da dem Zuschauer, der ja auch Wähler ist, einiges durcheinander:

Wer hat da wen bestochen?

Audi-Chef Stadler beteuert zwei Jahre lang, nichts von den Manipulationen gewusst zu haben. Jetzt bietet die Staatsanwaltschaft einen „deal“ an: Geständnis bewirkt Haftverschonung? Und schon kann er sich erinnern! Was für ein lustiges Theaterstück!

Klimakrise. Wärmepumpen sind auf einmal der Hit. Doch wer soll das bezahlen? Oh, die chinesischen Produkte sind da viel günstiger! Machen wir es so wie mit der Solar-Industrie. Fallen lassen, billiger in China kaufen. Was für ein Theater aber auch!

Russlands Angriff auf die Ukraine. Nie wieder Krieg, hat es seit 1945 gerufen! Jetzt aber muss endlich nicht nur die BW, nein, auch die deutsche Rüstungsindustrie mal so richtig gepeppelt werden. Was ist das denn für eine Posse? Nein, das ist todernst.

Und nun steht auch der gesamte Kulturbetrieb – Radio, Fernsehen, Theater – auf dem Prüfstand. In diesem Saustall muss endlich mal klare Kante gezeigt werden! (So wie man vor Jahrzehnten Bahn, Kommunen, Krankenhäuser und Energie privatisierte, um sie effizienter zu gestalten und um jetzt festzustellen, dass außer wegrationalisieren für den Bürger nur der Frust geblieben ist!) Vorsicht, Vorsicht!

Apropos Theater: nötiger denn je wäre es, schon die Kinder in der Schule Theater spielen zu lassen, damit sie am eigenen Leibe zu spüren bekommen, was es heißt, etwas vorzuspielen, etwas zu gestalten, Rollen zu tauschen und Wirklichkeitsebenen auszuprobieren, damit der Verstand geschärft aus solchen Spielerfahrungen hervorgeht und der volljährige Wähler selbstbewusst und kritisch das öffentliche Theaterstück zu durchschauen versteht und sich nichts vormachen lässt.

Summa: der öffentliche Raum braucht die kulturellen Angebote eines pfiffigen Radios, einer kritischen Berichterstattung im TV und einer lustvollen Theaterszene, um den müden Konsumenten wach zu schütteln und weiter als selbstständigen Zeitgenossen ernst zu nehmen und ihn das Vertrauen in die vierte Gewalt nicht verlieren zu lassen: Damit die Demokratie nicht zum Selbstbedienungsladen potenter Privatinteressenten verkommt, in dem der Wähler nur noch abnickt, was in Hochglanz verpackt feil geboten wird. Und die gewählten Vertreter nicht meinen können, den so wie so inkompetenten Wähler ungestraft in Dauerschleife ablenken und einschläfern zu dürfen, damit hinter den Kulissen unkontrolliert gemauschelt und gekungelt werden kann!

09 Mai

AbB – Autobiographische Blätter – Neue Serie – Blatt # 6 – Leseprobe

Einsamkeit, Stille, sinnloser Wörtertsunami.

Je öfter der alte Floh darüber nachdenkt, desto schneller kommen die Bilder und Wörter ungefragt zu Hilfe, die lustvoll eine Lanze nach der anderen für die Zwillinge Einsamkeit und Stille brechen.

Hatte er nicht als kleiner Floh spontan das Stummsein als gut und richtig empfunden? Hatte er nicht gern geschwiegen? Und hatte er es nicht stets versucht, die Wortgirlanden der großen Leute als das anzusehen, was sie sind: Schall und Rauch bei ständigem Abnicken der Luftschlösser?

Vielleicht ist die Brücke die Musik – wortlos – wie schon der junge Herder meinte, dass am Anfang der Gesang stand und nicht das Wort – wie bei den Vögeln.

All die Wortzertrümmerer – Sterne und Nietzsche zum Beispiel – misstrauen dem Wort, beschimpfen die damit herbeigezauberten Sinnangebote und stoßen sie lustvoll in den Orkus der Besinnlichkeit, wo die Sinne fröhlich tagen, lachen und Verwirrspiele sich ausdenken, damit die Denker wieder Arbeit haben.

Dass dabei neue Einbildungen geboren werden, ist nur zu verständlich, denn in der unüberschaubaren Vielfalt der Natur suchen wir Erdlinge stets eine Antwort, die verständlich und anschaulich erscheinen soll. Nicht einmal im Schlaf kehrt jene Stille ein, die das All farbenprächtig inszeniert, weil selbst in Träumen lärmende Wortkaskaden den erschöpften Sucher zu neuen Deutungen verführen. Am nächsten Morgen vielleicht schon wieder vergessen oder aufgebauscht zu unerhörten Neuigkeiten.

Gehen dann die Zwillinge Einsamkeit und Stille Hand in Hand dem weiter Suchenden voran, lenken ihn vielleicht die Musik der Vogelstimmen oder das Zirpen der Zikaden oder das Rauschen der Blätter im Wörterwald von allzu traurigen Gedanken ab.

Manchmal lässt er auch den Thespiskarren ausladen, bestaunt die schön verkleideten Figuren auf der kleinen Bühne, wenn sie zu leisen Lautenklängen zauberhafte Geschichten vorführen. Welche Welt ist denn nun welche? Hinterher, wenn er summend sich selbst die theatralischen Bilder weiter erzählt, schwebt er grinsend den Zwillingen einfach davon. Zumindest für Augenblicke.

Doch der schönste Augenblick ist und bleibt die wärmende Nähe des begehrten Erdlings, mit dem zu verschmelzen reinste Wonne ist. Nur da ist wortlos Wahrheit, Wirklichkeit und sinnlichste Begegnung, als wäre Welt demgegenüber nur Staffage, Kulisse, Kartenhaus.

06 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 161

Drei fremden Gestalten mischen sich ein.

„Wir dürfen nicht länger zaudern!“ grummelt Gromdas vor sich hin, als sich die Ratsherren nach Europas Rede fluchtartig in Richtung Ratssaal begeben, um die nächsten Schritte zu besprechen.

„Bin völlig deiner Meinung“, kommentiert Zygmontis leise den Aufruf seines Ratskollegen.

Pass doch auf, du Trottel!“ faucht da Berberdus einen älteren Herrn an, der ihn fast zum Stolpern gebracht hätte.

„Verzeih, Berberdus, aber ich möchte mit dir reden!“

Berberdus schaut verdutzt den fremden, alten Mann von der Seite an. Sollte ich den kennen? Ein ungutes Gefühl geht ihm dabei durch Mark und Bein. Wer weiß, wo für der aufdringliche Kerl nützlich sein kann, geht es ihm kurz durch den Kopf, wer weiß.

„Gut, gut – was kann ich denn für dich tun?“ geht er breit lächelnd auf Zeus ein. Die Ratsherren verschwinden schon im Ratssaal, Berberdus aber bleibt stehen und schaut erwartungsvoll auf den fremden Alten.

„Die beiden Frauen werden mächtiger und mächtiger. Das tut Kreta gar nicht gut – oder?“

Berberdus verschlägt es die Sprache. Genau dieser Gedanken war ihm selbst gerade durch den Kopf gegangen. Flüsternd kommen sie dem Eingang zum Ratssaal näher und näher. Der Fremde drängt ihn hinein und kommt einfach hinterher, bleibt hinter einer Säule stehen und hört zu, was Pallnemvus gerade sagt, während auch Berberdus seinem angestammten Sitzplatz zustrebt. Er ist völlig verwirrt. Wer ist dieser Mann? Warum habe ich ihm den Eintritt nicht verwehrt? Was hat er vor? Ist es vielleicht ein Attentäter?

„Werte Ratsherren“, beginnt gerade Collchades die Runde zu eröffnen, „jeder Tag, den wir tatenlos verstreichen lassen, schwächt unsere Position, das wisst ihr so gut wie ich!“

Er macht eine längere Pause, schaut dabei mit finsterem Blick in die Runde, und fährt dann fort:

„Wir hätten gar nicht erst zulassen dürfen, dass sie mit der Fackel den Katafalk entflammt, niemals. Für die Kreter ist sie jetzt die Herrin über die Insel!“

Zeus, der hinter der Säule alles gut mithören kann, fast sich ein Herz und tritt aus seiner Deckung hervor:

„Und sie wird es von Tag zu Tag noch mehr werden!“

Die alten Männer drehen sich erschrocken um. Wer ist das? Wer hat ihn herein gelassen? Was will der? Für Augenblicke sind die Ratsherren völlig sprachlos, dann ergreift Berberdus das Wort:

„Fremde haben keine Zutritt zu Sitzungen des Rates. Und wer bist du, dass du so sprichst?“

Die Ratskollegen nicken, sie sind nun erst recht neugierig, wer da so mutig ihre eigenen Gedanken laut ausspricht.

Zeus ist klar, dass jetzt seine Pläne doch noch zum Zuge kommen könnten, wenn er diese Männer für sich gewinnen sollte.

„Ich weiß, ich weiß. Ich bin neulich mit dem Schiff des Chaturo aus Sidon gekommen, hatte dort das Orakel im Tempel des Baal befragt. Der Tod des Minos stünde vor der Tür, so ließ es sich hören, und danach gäbe es Streit, den eine Frau gewinnen würde, wenn die Männer es zulassen.“

Es wird leichenstill im Saal. Hektisches Geflüster, hektische Gesten, während Zeus weiter nach vorne kommt. Alle starren ihn an. Neben einem Grausen wächst gleichzeitig ein wütender Wille in ihnen, als sie die Worte des Fremden auf sich wirken lassen.

„Und gab das Orakel einen Hinweis, wie wir das verhindern könnten?“ fragt Zygmontis und gibt so Zeus das nächste Stichwort zu seinem Plan (Insgeheim denkt er noch – hoffentlich sind meine beiden Brüder bei Europa und der Hohepriesterin genauso erfolgreich wie ich):

„Ein Bote aus Sidon, wo Europa ja herkommt, sollte ihr einreden, dass sie unbedingt das Orakel des Baal befragen muss. Und auf der Reise dorthin könnte es ja ein unvorhersehbares Unglück geben – Sturm, Schiffbruch, Untergang.“

Kreidebleich die Ratsherren. Stille, Grabesstille. Und bevor die Ratsherren weiter in ihn dringen, wendet sich Zeus wortlos zum Ausgang und lässt die alten Männer ratlos zurück. Ratlos? Nein. Sie wissen zwar nicht, wer dieser Fremde aus Sidon eigentlich ist, aber sie wissen nun, wie sie Gutes für Kreta tun können. Wie sie diese anmaßenden Frauen aus dem Palast und dem Tempel der großen Göttin vertreiben könnten – ohne dass sie als die Verursacher dastehen werden.

Später sieht man drei alte Männer im Hafen auf den zusammengerollten Netzen der Fischer sitzen. Sie scheinen gute Laune zu haben, sie lachen viel, klopfen sich gegenseitig auf die Schultern, sie haben sich anscheinend viel zu erzählen, denn auch Poseidon und Hades waren bei Europa und Chandaraissa, der Hohepriesterin, wichtigtuerisch zu Gange gewesen.