Die
Irrfahrt des Floßes der Boreia.
Ihr Floß
schwankt von einem Wellenberg zum nächsten. Europa, ihre beiden
Söhne und Athanama halten sich an den Planken fest, so gut es geht.
Die Angst hält sie wach, in dieser Nacht. Der Sturm ist zu einem
starken Wind geschrumpft, und die Schiffbrüchigen phantasieren
bereits ihr Ende. Kein Wasser, nichts zu essen und kein Land in
Sicht. Nur Chaturo ist wild entschlossen, nicht aufzugeben.
„Wenn die Strömung uns weiter so trägt, schaffen wir es vielleicht bis zum nächsten Abend an die Küste Phönizien!“ sagt er nun schon zum zehnten Mal. Aber keiner glaubt ihm. Europa betet im Stillen zu ihrer Göttin. Es kann doch einfach nicht sein, dass sie und ihre beiden Söhne so enden. Nein, nein!
„Bitte,
große Göttin, erhöre mein Flehen, rette uns, rette uns!“ so
betet sie. Und wenn Chaturo wieder seinen Satz von ihrer Rettung
wiederholt, nickt sie tapfer dazu. Athanama geht es sehr schlecht.
Sie muss sich immer wieder übergeben. Wir werden alle hier auf dem
Wasser sterben. Da ist sie sich ganz sicher. Auch wenn ihre Freundin,
Europa, sie zum Durchhalten überreden will, sie hat den Glauben
daran verloren. Und Chaturo, ihr Chaturo, mit dem sie so wunderbar
auf Kreta verbunden war, muss seinen Verstand verloren haben. Wie
könnte er sonst in dieser ausweglosen Lage immer wieder sagen, dass
sie es zur Küste schaffen werden? Jetzt hat auch noch der Wind
nachgelassen. Wie sollen sie denn da voran kommen?
Das Floß der Boreia – von oben betrachtet, vom Olymp zum Beispiel – mit den verzweifelten Menschen darauf – sieht aus wie ein kleines Stück Treibholz mit winzigen Stoffknäueln beladen.
„Eine
große Welle und alle werden vom Floß herunter gewischt!“ geht es
Zeus da oben durch den Kopf, als er am frühen Morgen gähnend auf
die Erde und sein Meer herab schaut. Es kribbelt ihn in seinen
Fingern. Dann wäre er sie endlich los.
„Was ist mit dir, bist du krank oder warum schon so früh auf den Beinen und starrst so nach da unten?“
Heras Stimme geht ihm durch Mark und Bein. Sie hat wirklich eine besonders glückliche Art, immer gerade dann zu erscheinen, wenn er sie überhaupt nicht sehen will, tobt es in ihm.
„Ich? Och,
ich habe nur schlecht geschlafen und überlege gerade, ob ich meinen
Bruder Poseidon da unten heute besuchen soll.“
„Den? Sag mal, wie vergesslich bist du denn eigentlich? Dein Bruder ist seit gestern unterwegs nach Hesperien, Äpfel zählen!“
Das ist Zeus
nun wirklich echt peinlich.
„Stimmt,
stimmt, liebe Gemahlin“, säuselt er, so gut er kann, „sollte
wohl besser noch mal schlafen gehen!“
Hera kann
nur den Kopf schütteln. Und Zeus ärgert sich, dass er das mit der
Welle und dem Floß nun doch nicht machen kann. Mist!
Und während oben im Olymp dieses Frühmorgengespräch über die Bühne geht, schrabbt unten auf dem Meer das Floß der Borea gerade über ein Riff und bleibt ächzend daran hängen. Die übermüdeten und durstenden Menschen an Bord des Floßes rutschen – völlig unvorbereitet auf dieses plötzliche Anhalten – purzelnd ins Wasser. Schreie. Todesängste. Keiner von ihnen kann schwimmen. Als letzter rutscht Chaturo, der Kapitän der Borea, ins kalte Nass. Taumelnd gehen Europa, Athanama, Sadamanthys und Parsephon unter, schlucken salziges Wasser, fuchteln mit den Armen verzweifelt hin und her, strampeln mit ihren Beinen, als ihre Füße auf Felsbrocken stoßen. „Sadamanthys, Parsephon!“ schreit Europa verzweifelt, als sie sich schwankend aufzurichten sucht, Luft schnappt, sich umschaut und es nicht fassen kann, denn auch die anderen tauchen neben und vor ihr wild prustend wieder auf, rutschen wieder ab, gehen unter, tauchen wieder auf und gelangen so, ohne dass sie wissen, dass sie genau in die richtige Richtung torkeln, schreiend, japsend, spuckend. Selbst Chaturo schafft es, Luft zu holen, hinterher zu waten, wieder hinzufallen, auszurutschen, unterzugehen, wieder aufzutauchen, Salzwasser zu spucken.
Später, als sie alle schwer atmend am Ufer liegen, wissen sie wirklich nicht, ob das alles nur ein schöner Traum ist – im letzten Augenblick, bevor sie ertrinken und sterben werden – da geht im Osten auch noch die Sonne auf und Chaturo, dessen Augen brennen von dem vielen Salzwasser, das darüber geflossen war in den letzten Stunden, flüstert erneut die letzten Worte seines Satzes: „…die Küste Phöniziens, die Küste Phöniziens…“ Es ist dann Europa, die sich als erste schwer atmend erhebt, in die Knie geht und zitternd betet: „Große Göttin, du hast uns gerettet. Wir danken dir.“
Dann
schlafen sie alle vor Erschöpfung einfach ein.
„Thalia, schau mal, da liegen ja Menschen am Strand!“ Es ist Kimeéa, die sie entdeckt hat. Sie wollten den Aufgang der Morgensonne hier am Strand erleben, jetzt nähern sie sich vorsichtig den Fremden, den schlafenden.