31 Okt

Europa – Meditation # 420

„Mentalitätswechsel, kriegstüchtig, wehrhaft“

Der Zeitgeist geht um, der Zeitgeist treibt die Menschen vor sich her – schon immer. Da passt Halloween voll ins Blitzlichtgewitter der Medienwelten: Nur nicht zu lange an einem Bild hängen bleiben! In dunklen Winkeln lauert mies grinsend die Langeweile. Fratzen, Ungeheuer, Teufel, Skelette sorgen für höheren Puls. Süßigkeiten stimulieren obendrein.

Und unser Hofbäcker – lat. pistor – backt uns gerade neues Brot: drei Sorten bietet er an:

duftender „Mentalitätswechsel“,

kerniges „Kriegstüchtig“

und weiches „Wehrhaft“

alle drei Sorten unwiderstehlich frisch, knusprig kross und langlebig dazu.

Dabei hatten sich die westlichen Demokratien doch gerade erst an das neue, feine „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) gewöhnen wollen: sozusagen als das neue Einheitsbrot für alle, das versprach, allen zu schmecken, weil der Westen es erfunden hatte.

Das war 1989.

Aber es verschwand blitzschnell wieder aus den Regalen. Keiner wollte es kaufen. Ein völliger Rohrkrepierer.

Doch die Weltkundschaft wollte neues Brot, neue Sorten, neues Kraftfutter.

1991 war es dann so weit: (Samuel P. Huntington) – natürlich musste es gleich ein Knaller sein: „Kampf der Kulturen“ – also eine Wendung um mindestens 380°: der Clash of Civilizations zwischen dem alt und müde gewordenen Westen, China, Indien und dem islamischen Kulturraum läuft sich gerade in der Ukraine und in Palästina warm. Da kommt der „Mentalitätswechsel“ gerade recht. Nach „Nie wieder Krieg!“ und dem Ladenhüter „Entspannungspolitik“ und „Wandel durch Annäherung“ endlich wieder Vollkornbrot!

Es ist schon atemberaubend, wie leicht vor einem Wald von Mikrofonen dieser Wechsel im Denken und Handel auf der internationalen Bühne angeboten werden kann. Niemand wird blass oder rot, die meisten nicken besorgt: Was will man machen? Umdenken, klar. Dem „Ende der Geschichte“ von 1989 und dem „Kampf der Kulturen“ 1993 folgt nun – quasi wie von selbst – der Mentalitätswechsel hin zu „Nur wer wehrhafter Krieger ist in diesen Tagen, wird den nächsten Morgen sehen“!

30 Okt

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 166

Die Irrfahrt des Floßes der Boreia.

Ihr Floß schwankt von einem Wellenberg zum nächsten. Europa, ihre beiden Söhne und Athanama halten sich an den Planken fest, so gut es geht. Die Angst hält sie wach, in dieser Nacht. Der Sturm ist zu einem starken Wind geschrumpft, und die Schiffbrüchigen phantasieren bereits ihr Ende. Kein Wasser, nichts zu essen und kein Land in Sicht. Nur Chaturo ist wild entschlossen, nicht aufzugeben.

„Wenn die Strömung uns weiter so trägt, schaffen wir es vielleicht bis zum nächsten Abend an die Küste Phönizien!“ sagt er nun schon zum zehnten Mal. Aber keiner glaubt ihm. Europa betet im Stillen zu ihrer Göttin. Es kann doch einfach nicht sein, dass sie und ihre beiden Söhne so enden. Nein, nein!

„Bitte, große Göttin, erhöre mein Flehen, rette uns, rette uns!“ so betet sie. Und wenn Chaturo wieder seinen Satz von ihrer Rettung wiederholt, nickt sie tapfer dazu. Athanama geht es sehr schlecht. Sie muss sich immer wieder übergeben. Wir werden alle hier auf dem Wasser sterben. Da ist sie sich ganz sicher. Auch wenn ihre Freundin, Europa, sie zum Durchhalten überreden will, sie hat den Glauben daran verloren. Und Chaturo, ihr Chaturo, mit dem sie so wunderbar auf Kreta verbunden war, muss seinen Verstand verloren haben. Wie könnte er sonst in dieser ausweglosen Lage immer wieder sagen, dass sie es zur Küste schaffen werden? Jetzt hat auch noch der Wind nachgelassen. Wie sollen sie denn da voran kommen?

Das Floß der Boreia – von oben betrachtet, vom Olymp zum Beispiel – mit den verzweifelten Menschen darauf – sieht aus wie ein kleines Stück Treibholz mit winzigen Stoffknäueln beladen.

„Eine große Welle und alle werden vom Floß herunter gewischt!“ geht es Zeus da oben durch den Kopf, als er am frühen Morgen gähnend auf die Erde und sein Meer herab schaut. Es kribbelt ihn in seinen Fingern. Dann wäre er sie endlich los.

„Was ist mit dir, bist du krank oder warum schon so früh auf den Beinen und starrst so nach da unten?“

Heras Stimme geht ihm durch Mark und Bein. Sie hat wirklich eine besonders glückliche Art, immer gerade dann zu erscheinen, wenn er sie überhaupt nicht sehen will, tobt es in ihm.

„Ich? Och, ich habe nur schlecht geschlafen und überlege gerade, ob ich meinen Bruder Poseidon da unten heute besuchen soll.“

„Den? Sag mal, wie vergesslich bist du denn eigentlich? Dein Bruder ist seit gestern unterwegs nach Hesperien, Äpfel zählen!“

Das ist Zeus nun wirklich echt peinlich.

„Stimmt, stimmt, liebe Gemahlin“, säuselt er, so gut er kann, „sollte wohl besser noch mal schlafen gehen!“

Hera kann nur den Kopf schütteln. Und Zeus ärgert sich, dass er das mit der Welle und dem Floß nun doch nicht machen kann. Mist!

Und während oben im Olymp dieses Frühmorgengespräch über die Bühne geht, schrabbt unten auf dem Meer das Floß der Borea gerade über ein Riff und bleibt ächzend daran hängen. Die übermüdeten und durstenden Menschen an Bord des Floßes rutschen – völlig unvorbereitet auf dieses plötzliche Anhalten – purzelnd ins Wasser. Schreie. Todesängste. Keiner von ihnen kann schwimmen. Als letzter rutscht Chaturo, der Kapitän der Borea, ins kalte Nass. Taumelnd gehen Europa, Athanama, Sadamanthys und Parsephon unter, schlucken salziges Wasser, fuchteln mit den Armen verzweifelt hin und her, strampeln mit ihren Beinen, als ihre Füße auf Felsbrocken stoßen. „Sadamanthys, Parsephon!“ schreit Europa verzweifelt, als sie sich schwankend aufzurichten sucht, Luft schnappt, sich umschaut und es nicht fassen kann, denn auch die anderen tauchen neben und vor ihr wild prustend wieder auf, rutschen wieder ab, gehen unter, tauchen wieder auf und gelangen so, ohne dass sie wissen, dass sie genau in die richtige Richtung torkeln, schreiend, japsend, spuckend. Selbst Chaturo schafft es, Luft zu holen, hinterher zu waten, wieder hinzufallen, auszurutschen, unterzugehen, wieder aufzutauchen, Salzwasser zu spucken.

Später, als sie alle schwer atmend am Ufer liegen, wissen sie wirklich nicht, ob das alles nur ein schöner Traum ist – im letzten Augenblick, bevor sie ertrinken und sterben werden – da geht im Osten auch noch die Sonne auf und Chaturo, dessen Augen brennen von dem vielen Salzwasser, das darüber geflossen war in den letzten Stunden, flüstert erneut die letzten Worte seines Satzes: „…die Küste Phöniziens, die Küste Phöniziens…“ Es ist dann Europa, die sich als erste schwer atmend erhebt, in die Knie geht und zitternd betet: „Große Göttin, du hast uns gerettet. Wir danken dir.“

Dann schlafen sie alle vor Erschöpfung einfach ein.

„Thalia, schau mal, da liegen ja Menschen am Strand!“ Es ist Kimeéa, die sie entdeckt hat. Sie wollten den Aufgang der Morgensonne hier am Strand erleben, jetzt nähern sie sich vorsichtig den Fremden, den schlafenden.

26 Okt

Europa – Meditation # 419

Der Mythos Europa basiert auf Gewalt

Am Anfang des Narrativs von Europa steht – das weiß ja inzwischen jeder, der im internet herum daddelt – eine Gewalttat eines Mannes (eines Gottes, der als Inkognito und Vorspiel die Gestalt eines weißen Stiers wählte) an einer Frau. Ein Geschehen, das bis heute Frauen global in Angst und Schrecken versetzt. Femizide, erniedrigende Verhöre, allzu oft wird dem Täter geglaubt und nicht der Klägerin. Auch das ein Narrativ – nicht nur in Europa – das die Banalität der Gewalt gegen Frauen nur allzu deutlich werden lässt. Beschworen auch immer in großen Bildern, die sich ins kulturelle Gedächtnis einbrannten – bis heute. Erst recht im Krieg.

Aber dabei handelt es sich jeweils um schlimme Einzelereignisse. In Mythen, Epen, Liedern und Bildern wird davon immer wieder erzählt – so lange es Europa gibt. Dabei bedeutet doch ihr Name: die weitsichtige. Oder ist mit dieser Weitsichtigkeit etwa gemeint, dass Gewalt gegen Frauen weiter in die Zukunft hinein fortbestehen wird – ist Europa gewissermaßen eine Kassandra, deren Tragik darin bestand, dass man ihren Prophezeiungen nicht glauben wollte?

Und wieder sind es Bilder von Gewalt an Frauen vor allem, die die Macht der Krieger zeigen sollen, die mit Angst und Schrecken wie naturwüchsige Monster gnadenlos zuschlagen – jederzeit und ohne Vorwarnung. Ist also die kulturelle Evolution nicht die zu mehr Humanität, sondern lediglich nur die zu immer wieder neuen Varianten der alten Gewaltbereitschaft?

Das zarte Pflänzchen „Partnerschaft auf Augenhöhe, Kooperation und Toleranz“ war demnach gar kein Pflänzchen, sondern bloß eine Fata Morgana einer schwindlig konditionierten Konsumgesellschaft, die über die Untiefen der Patrix Glitzerkram streute, um sich schön blenden zu lassen – bis zum nächsten Kollaps – oder die sich sicher wähnte, weil technologisch hochgerüstete Überwachungssysteme im Hochglanzprospekt verkündeten: Wir haben alles unter Kontrolle, wir werden jeden gewaltsamen Übergriff im Keim ersticken. Im Gaza, in Paris, in New York, in Brüssel, in Oslo und und und…

Eine noch bizarrere Geschichte ist die von der Nymphe Kallisto, die derselbe Gott (wie bei Europa) überlistete, indem er sich in ihre Herrin Artemis verwandelte, um sie ohne Widerstand vergewaltigen zu können. Dem Oberpatriarch war wohl keine Verwandlung infam genug, um zu seinem Ziel zu gelangen. Gewalt ist es natürlich allemal. Bis heute.