21 Dez

YRRLANTH – Blatt 185 – Historischer Roman II – Leseprobe

Vielstimmiger Gesang in der hohen Halle der vielen Nischen.

Pippas Gefühle schwanken zwischen Todesangst und Seligkeit. Ist das jetzt hier in dieser Höhle das Ende meines Lebens? Hat mir die Alte in den Katakomben von Lutetia nur lauter Lügen eingeflüstert? Gleichzeitig versinken Pippas Blicke in denen von Julianus. Was hat dieser Blick zu bedeuten? Betrügt mich meine Todesangst nur, um mich in diesem letzten Augenblick stark zu machen? Auch Julianus ist völlig verwirrt. Denn hinter der großen Göttin in einer der vielen Nischen, die den kreisförmigen Raum begrenzen, erkennt er Diana, als wäre sie aus dem Tempel der Villa Marcellina hierher gekommen, um ihn zu trösten und aufzumuntern. Sumila seufzt im Schlaf vor ihm auf dem trockenen Stroh, das mit Moos gepolstert ist. Oder ist das alles jetzt nur ein Traum, der ihnen die Angst vor ihrem nahen Ende nehmen soll?

Das Flackern der Flammen in den Fackeln, die zwischen den Nischen aufgehängt sind, fluten den Moment zu einem Bad in milden Farben, die wie bunte Schlangenbänder an den Wänden auf und ab gleiten.

Jetzt beginnen die Frauen erneut ein vielstimmiges Summen. Mit geschlossenen Augen und erhobenen Armen schwanken sie genüsslich hin und her und verneigen sich lächelnd von den Götterbildnissen in den Nischen – dabei wandern sie sacht von einem Abbild zum nächsten, verneigen sich summend, jauchzen kurz und hell auf, um dann wieder weiter zu tanzen und zu summen. Völlig selbstvergessen. Die Fremden, die sie hierher geleitet hatten, haben sie längst sich selbst überlassen. Zu Füßen der großen Göttin entzünden nun zwei alte Priester kleines Geäst, das den Weihrauch in großen Schalen zum Schwitzen und Schmelzen bringt. Pippa und Julianus liegen dicht beieinander, jetzt umarmen sie sich, vereinen sich, bis die Erschöpfung nach solch einem langen Tag sie gnädig in tiefen Schlaf hinüber geleitet. Und in ihren Träumen wandeln sie noch einmal durch alte Bilder, in denen sie Somythall begegnen, die ihnen lachend entgegen winkt. Sol Invictus scheint mit Atawima in ein tiefes Gespräch vertieft – von Nische zu Nische – Juppiter Dolichenus philosophiert begeistert mit Mithras und Grannus macht überschwenglich Diana den Hof. Ein heimlicher Olymp unter der Erde. Die Götter und Göttinnen werfen dabei immer wieder wohlwollende Blicke auf das eng umschlungene junge Paar, das längst sich und alles um sie herum vergessen hat, so überschäumend haben Lust und Wonne sie verwöhnt und aufgehoben in eine Welt reinster Lebensfreude. Und erst Isis!

21 Dez

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 167

Der Traum vom günstigen Orakel in Sidon.

Dann lösen sich die Stimmen und die Figuren in nichts auf. Und aus diesem dunklen Nichts wachsen, wie von einer leichten Brise herbei geweht, helle, duftende Bilder.

Ich bin zu Hause, denkt Europa. Meine Eltern schicken mich zum Tempel, ich soll bei der großen Göttin Astarte, Baals Gemahlin, fragen, was sie mir und meinen beiden Söhnen, Sadamanthys und Parsephon, zu prophezeien haben.

Der warme Wind auf meiner Haut tut so gut. Und das leise Wellenrauschen auch. Aber der Tempel in meiner Heimatstadt Sidon steht doch hoch oben auf der Akropolis. Wie kommt das Meer dorthin? Träume ich etwa, fragt sich Europa in ihrem Traum. Und die Mädchen eben, sprachen die nicht eine ganz andere Sprache als wir in Sidon?

„Mein Vater, mein Vater“, hört sich Europa gleichzeitig flehen, obwohl sie doch weiß, dass er längst tot ist, genau wie ihre Brüder Kadmos, Phoinix und Kilix. Aber er hört sie einfach nicht. Oder stellt er sich nur taub? Und das Blut an seinen Händen, ist das von meiner Mutter, von Telephassa?

Möwen kreischen über Europa.

„Haut ab, macht nicht solchen Lärm, ich kann sonst nicht verstehen, was mir die große Göttin gerade offenbaren möchte!“ zischt sie gegen das Möwengeschrei an.

Wolken ziehen jetzt über sie hin. Ihr Gewand trocknet allmählich. Im Tempel herrscht ein Dämmerlicht, obwohl es doch noch früh am Morgen ist. Aber es riecht gut. Ruft da jemand nach ihr?

Ihre Schritte hallen zwischen den hohen Säulen hin und her. Junge Priesterinnen stehen kichernd in einer Ecke. Europa schüttelt unwirsch ihren Kopf. Keine Ehrfurcht vor der großen Göttin Astarte?

Jetzt kniet sie vor dem riesigen Abbild des Götterpaares Astarte und Baal, die eng nebeneinander sitzen, die Hände liegen auf ihren Oberschenkeln. Lächeln sie oder meine ich das nur, denkt Europa.

„Dein Vater hat zwar wegen seiner schlimmen Bluttat tief unter der Erde zu büßen, aber deine Mutter, Telephassa, bittet uns, dir und deinen Söhnen zu helfen.“

Warum redet der Gott so langsam, warum schweigt Astarte?

„Soll ich weiter die Regentschaft für meine Söhne auf Kreta führen oder…?“

„Europa, Europa, lebst du noch?“ Chaturos Stimme ganz in der Nähe.

21 Dez

Europa – Meditation # 430

Der Unwetter-Kreisel dreht sich weiter und weiter.

Zur Zeit ist er wieder mehr auf der andere Hälfte der Erdkugel unterwegs, der Unwetter-Kreisel, sorgt für Überschwemmungen und Wirbelstürme. Und die Statistiker schauen in ihren langen Tabellen nach, ob es vorher schon einmal solch heftige Ausschläge gegeben habe. Meistens ist die Antwort: nein.

Wir aber auf der nördlichen Halbkugel finden das Wetter zwar ungemütlich, weil zu nass und zu kalt und zu windig, aber so waren doch die letzten Winter alle. Jedenfalls laufen die Talsperren endlich wieder voll, berappelt sich der Grundwasserspiegel Richtung Normallage – was soll also das ganze Gejammere überhaupt?

Da zeigt sich das Kurzzeitgedächtnis des homo sapiens von seiner Schokoladenseite: Nächstes Jahr wird bestimmt alles besser. Alternative Energie wird weiter wachsen, das Brutto-Sozial-Produkt ebenfalls, der Anteil an Elektrofahrzeugen wird so richtig durch die Decke gehen (wir Europäer müssen jetzt endlich mal hier produzierte E-Autos nach vorne bringen) – also wird doch alles besser werden – oder?

Außerdem werden sicher auch noch in anderen Staaten Europas endlich Ministerien für Einsamkeit geschaffen werden (die neuesten Beschlüsse in Sachen illegaler Zuwanderung in ganz Europa werden endlich dieses Fass ohne Boden gründlich reparieren), schließlich ist das andauernde, stumme Starren auf Bildschirme ein echter Schlauch für die nach Kommunikation gierende Seele. Und das monotone Hämmern auf der Tastatur tut dem Bewegungsapparat auch nicht gut.

Wie wäre es denn da mit dem analogen Lesen eines wirklichen Buches und dem anschließenden Debattieren über das Gelesene mit Freunden, die tatsächlich einem direkt analog gegenüber sitzen?

Um nicht zu übertreiben bei dem Neustart, schlage ich ein dünnes Büchlein – nicht einmal 100 Seiten – von Peter Sloterdijk vor – mit dem dramatischen Titel: Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung.

Da werden wir nämlich ganz fest an die Hand genommen, auf Sauf- und Sextourismus samt All-inclusiv-Kreuzfahrten zu pfeifen und stattdessen – jetzt zum Beispiel: in der Tag-und Nachtgleiche mit Glühwein und herzhaftem Bissgut versorgt – mit den ebenfalls frustrierten Nachbarn auf bessere Zeiten anzustoßen. Nebenan auf der Wiese am besten. Denn da wird – ähnlich wie im Sommermärchen, dem völlig unterschätzten – ein wärmendes Wir-Gefühl bedient, das wir mehr brauchen als alles andere. Das kostet nicht viel, bringt aber so einiges an Wohlbefinden, unerwarteter Nähe, aus der dann auch Solidarität wachsen kann. Kann man üben. Auch auf der Straße. In allen großen Krisen war Helfen in großem Stil einfach angesagt. Da kam Optimismus richtig in Fahrt. Kriegen wir zusammen hin.

Wenn Mütter genervt auf dem Kinderspielplatz die Wohlerzogenheit des eigenen Kindes vergeblich vorzuführen versuchen, kann es vorkommen, dass drei oder vier seufzende, alleinerziehende junge Frauen jovial zuzuhören scheinen, wenn eine besonders kluge sagt: „Zur Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf“.

Das Witzige an diesem Satz ist allerdings, dass er – leicht abgewandelt – auch für uns, die mit dem Glühwein in der Hand und der Pokerface-Maske auf dem Weihnachtsmarkt, gilt:

„Zum Wohlfühlen braucht es eben ein ganzes Dorf – aber auf gar keinen Fall die unterkühlte Anonymität der großen Städte oder Metropolen!“

Kiez, Veddel oder so und ohne diese Blechkisten-Anmache auf und unter der Erde. Überschaubar eben, vertraute Gesichter. Das wäre echt ein qualitativer Sprung nach vorn – wer da von Verzicht reden will, hat einfach nicht verstanden, was die Uhr geschlagen hat, um den Unwetter-Kreisel wieder zu beruhigen.

Sonst werden bald schon die Bilder aus dem Ahrtal – schon vergessen? – getoppt werden von solchen in Alpentälern, von Bergrutschen verschüttet, von trocken gelegten Auenlandschaften, in denen das Vieh ersäuft, und von überlaufenden Staudämmen und noch übleren Bränden in Brandenburg.