24 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 174

Das Orakel in Sidon spricht.
Europa kann es immer noch nicht fassen: Erst dieser fürchterliche Schiffbruch, die Angst um ihre Söhne, die Gastfreundschaft auf der Insel der Aphrodite und dann die Weiterreise nach Sidon – ein Katzensprung. Zusammen mit Athanama ist sie sich ganz sicher, dass die große Göttin ihre schützenden Hände über sie gehalten hat, dass sie bald schon mit einer klaren Botschaft des Orakels nach Kreta zurückkehren werden. Aber die Bilder der immer noch in Trümmern liegenden Stadt holen sie unsanft zurück in die Wirklichkeit. Unbarmherzig scheint die blendende Sonne auf zerbrochene Säulen, auf verschüttete Straßen, auf eingestürzte Tore. Schweigend bahnen sie sich einen Weg durch die einst so vertrauten Gassen. Parsephon und Sadamanthys sehen zum ersten Mal die durch das Erdbeben zerstörte Geburtsstadt ihrer Mutter. Schweigend trotten sie hinter ihr her. Ihre Blicke schweifen rastlos von Ruine zu Ruine. Dazwischen Menschen, die um ein Feuer sitzen. Stumm starren sie in die Glut. Sie fühlen sich wohl alle von allen guten Göttern verlassen. „Schaut“, wendet sich gerade Europa an die Zwillinge, „schaut, da vorne, der Tempel mit dem Orakel steht noch, als hätte es das Erdbeben gar nicht gegeben!“ Sie nicken bloß. Vielleicht ist das ja alles nur ein Albtraum, denkt Parsephon und wundert sich deshalb auch gar nicht, wenn sein Bruder neben ihm flüstert: „Vielleicht bilden wir uns das ja gerade alles nur ein. Und unsere Mutter zeigt gerade auf etwas, das es gar nicht gibt.“ Parsephon ist sprachlos. Was ist denn nun gerade der Traum: Dass sein Bruder zu ihm spricht, als habe er seinen Gedanken erraten, oder dass Sidon gar nicht zerstört ist oder…?Von weitem sehen sie, dass auf den Stufen des erhalten gebliebenen Tempels jemand steht, der sie anstarrt, als seien sie Dämonen, die gerade aus der Unterwelt kommen. Entsetzt dreht er sich um und verschwindet im Inneren des Tempels. „Euer Großvater, mein Vater Agenor, hat dieses Orakel einst bauen lassen. Es war sein ganzer Stolz“, holen sie die Worte ihrer Mutter in die Wirklichkeit zurück. „Mutter, warum ist der denn gerade so erschrocken weggelaufen? Sehen wir so furchterregend aus?“ Sadamanthys möchte seine Mutter zum Lachen bringen. Aber ihre Antwort passt gar nicht dazu: „Vielleicht hatte sich hier das Gerücht verbreitet, wir seien ertrunken. Dann müssen wir jetzt für sie Wesen aus dem Totenreich sein.“ Da treten aus dem Eingang gleich mehrere Menschen hervor: Der Oberpriester, zwei Wächter, zwei junge Priesterinnen. Jetzt hebt der Oberpriester den rechten Arm hoch und ruft Europa entgegen: „Wer seid ihr? Wer schickt euch? Das Orakel hat euch gerufen, aber ihr seid doch im Sturm ums Leben gekommen. Zu wem wird es nun sprechen?“ Europa verneigt sich vor dem Sprecher, auch Athanama und die Zwillinge gehen in die Knie. „Wir haben den Schiffbruch überlebt, so kommen wir nun, um den Spruch als Lebende zu hören!“ Alle, die da oben auf der obersten Stufe der Treppe zum Tempel stehen, schauen sich ungläubig an. Sie sind also keine Geister, keine Dämonen? Möwen ziehen kreischend über ihnen vorbei. Es klingt fast wie Hohngelächter. Alle hatten zu ihnen hoch geschaut. Ein Zeichen? Der Oberpriester findet als erster wieder seine Fassung. Denn wenn dem so ist, dann steht hier die Tochter des gefallenen Königs vor ihm, Europa. Er atmet tief durch und bittet die Ankömmlinge mit einer großen Geste einzutreten, gleichzeitig gibt er seinem eigenen Gefolge zu verstehen, eine Gasse zu bilden, damit der Eingang für die Frau des Minos von Kreta weit offen steht. Die Kühle im Innern der Cella tut ihnen allen gut. Sie brauchen zwar eine Weile, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht des hohen Raumes gewöhnt haben, dann aber – begleitet vom Raunen und Flüstern hinter ihnen – staunen sie über die still in der Apsis auf ihrem Stuhl sitzende Seherin, die sie lächelnd zu erwarten scheint. Europa kommt näher, hält an, verneigt sich erneut und spricht dann so: „Du hast gerufen, wir sind deinem Ruf gefolgt. Was ist es, dass du uns sagen sollst?“ Die Zwillinge sind mächtig stolz auf ihre Mutter, dass sie hier – umgeben von all den fremden Menschen und der Seherin, neben der inzwischen auch der Oberpriester steht – das Wort ergriffen hat. Die Seherin nickt. Schweigt. Parsephon, Sadamanthys, Europa und Athanama werden auf eine harte Geduldsprobe gestellt. Denn das Schweigien dauert lange. Der Oberpriester blickt scheinbar ins Leere. Oder wen schaut er an? Schließlich – den Ratsuchenden kommt es wie eine Ewigkeit vor – beginnt die Seherin mit sehr leiser Stimme, fast summend, zu sprechen: „Blitz und Donner galten zwar dir, doch deine Bestimmung ist es, der Entführung mit einem guten Ende zu antworten. Gewalt ist nicht die Botschaft, vielmehr sollst du die fast schon vergessene Botschaft vom Glück in deinen Söhnen weiter tragen helfen.“ Als hätten diese wenigen Worte die Seherin unendliche Mühe gekostet, schließt sie nun seufzend die Augen und fällt auch gleich in einen tiefen Schlaf. Der Oberpriester fordert mit einer kleinen Geste die zwei jungen Priesterinnen neben sich auf, die Schlafende vorsichtig zu stützen. Europa ist erleichtert. Denn wenn sie mit dieser Botschaft nach Kreta zurückkehren wird, werden die alten Räte der Inthronisation ihrer Söhne nichts mehr entgegensetzen können.

20 Mai

Europa – Meditation # 450

Der fünfzigste Tag.
Pentekostae Hemera. Schönstes Griechisch, aus dem im Deutschen nach und nach der Zungenbrecher Pfingsten geworden ist. Wer weiß denn heutzutage noch, was hinter der Zahl 50 eigentlich steckt? Schon die Frage setzt etwas voraus, das zunehmend abhanden kommt: Wissen und Wissen Wollen. Längst wischt man sich durch digitale Angebote, wirft kurz einen Blidk darauf, verwendet im nächsten Gesprächsbeitrag cool das fehlende Puzzleteil, schweift erneut ab, schnappt wieder etwas auf, das man nicht weiß, wischt sich erneut durch die vertrauten digitalen Signalstraßen und hüpft so vom Stöckchen aufs Hütchen und so weiter. Gleichzeitig wischt man sich durch die neuen Bilderstrecken von Überschwemmungen in Brasilien, Afrika und im Saarland, gefällt sich in einem zynischen Beitrag: „Na, dann gibt es zumindest zur Zeit keine Waldbrände, wie letztes Jahr“, und lacht dazu ein schmallippiges „Huhuhu!“ und entscheidet gleichzeitig im inneren Tageskalender, dass man am Abend unbedingt einen Blick in die neue Staffel werfen wird, weil die letzte inzwischen so was von ausgelutscht ist, dass man schlecht gelaunt einen Spruch loslässt, wie einfallslos und oberflächlich doch diese Serien seien. Als wäre man selber ein besserer Macher an dieser Stelle, wenn man ihn nur ließe…! So geht auch dieses Wochenende wie ein schlechter Film – bei so einem miserablen Wetter aber auch – am Betrachter vorbei, und die näher rückenden Einschläge im ehemaligen Palästina und der Ukraine sorgen höchstens für zusätzlichen Nervenkitzel. Radikale Siedler im West-Jordanland bringen Laster mit Lebensmittel zum Anhalten und werfen die Ladungen auf die Straße, damit die flüchtenden palästinensischen Familien im Gazastreifen nicht überleben können. Junge Israeli reisen im Bus an, um Schadensbegrenzung und Solidarität mit den traumatisierten Familien in Rafah zu praktizieren; der Zuschauer in der BRD soll stattdessen den 75. Geburtstag „seiner“ Verfassung feiern: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“…Wie langweilig. Zumal keine Fußballspiele anstehen, Jürgen Klopp in Liverpool aufhört (der sollte mal den Laden in München aufmischen! geht es dem Besserwisser in seinem vollautomatischen Fernsehsessel durch den Kopf-Schmerz-Kopf); über Tirol wird er dieses Jahr bestimmt nicht an die Adria fahren, klar, wär‘ er ja schön blöd. Schnäppchen-Flug, klar. Was soll das mit dem fünfzigsten Tag denn eigentlich bedeuten, stört ihn da aufdringlich die Überschrift? Ach so, Pfingsten. Das mit dem schlauen Vogel, da soll den Aposteln doch ein Licht aufgegangen sein: Endlich der volle Durchblick, endlich wurde denen da gesagt, wo es lang gehen sollte. Die Einzelheiten verhandelten dann uralte Männer auf sogenannten Konzilien per Mehrheitsbeschluss: Ein, zwei oder drei Gottheiten – oder einfach alle in einem. Nicht schlecht. Dass aber heute uns Europäern, von den abrahamitischen Religionen nachhaltig geprägt im Denken und Handeln (Salman Rushdie hat mit seinen „satanischen Versen “ dazu ein phantasievolles Ausrufezeichen gesetzt), kein Licht aufgeht, sondern man lieber mit leichtem Gänsehaut-feeling die bedenklichen Erschütterungen im San-Andreas-Graben in Kalifiornien an sich vorbei flimmern lässt, hat schon etwas sehr Befremdliches: wie aufgeregte Ameisen flitzt der homo sapiens durch die Feiertage und meint, selber von all dem Desaster nicht betroffen zu sein. Als könne er in Dauerschleife Zuschauer bleiben in einem planetarischen Geschehen, bei dem er unterdessen fleißig mithilft weiter an dem Ast zu sägen, auf dem er selber selbstgefälllig hockt. Im Roman von Anthony Doerr „Wolkenkuckucksland“ kann der gebildete Europäer gleichzeitig schmunzelnd folgende Textstelle vor seinen Augen Revue passieren lassen: .
„Seymour interessieren die Methanmengen, die im sibirischen Permafrost eingeschlossen sind. Über den Rückgang der Eulenpopulationen zu lesen, hat ihn auf die fortschreitenden Entwaldungen gebracht, die zu Bodenerosion führen, zur Verschmutzung der Ozeane und dem Korallensterben, alles erwärmt sich, schmilzt und stirbt weit schneller, als die Wissenschaftler es vorausgesagt haben, jedes einzelne System auf diesem Planeten ist auf unzählige unsichtbare Weisen mit allen anderen verbunden: Kricketspielern in Delhi wird wegen der Luftverschmutzung in China schlecht, indonesische Torffeuer pumpen Milliarden Tonnen Kohlenstoff in die Atmosphäre über Kalifornien, riesige, Millionen Morgen überziehende Buschfeuer in Australien färben die letzten Gletscher Neuseelands rosa. Ein wärmerer Planet = mehr Wasserdampf = ein immer noch wärmerer Planet = auftauender Permafrost = im Permafrost gebundenes COzwei und Methan geraten in die Atmosphäre = mehr Hitze = weniger Permafrost = weniger Eis an den Polen, das die Sonnenenergie reflektiert, und all die Beweise dafür, all die Untersuchungen stehen in der Bibliothek, jeder kann sie finden, aber soweit Seymour das sagen kann, ist er der Einzige, der sie sich ansieht.“
Der fünfzigste Tag. Man könnte natürliche auch die „Geheime Offenbarung“ des Johannes (NT) zu Rate ziehen – als Szenario, das in Hollywood-Schinken längst rauf und runter bespielt wird – um sich ein Bild vom Untergang zu machen. Aber Angst machen gilt nicht. Dann doch lieber weiter Bespaßen lassen – in Vorfreude auf die kommenden End-Spiele in Berlin und Dublin und die sicher wieder märchenhaft unterhaltsame Europameisterschaft im eigenen Land!

12 Mai

Europa – Meditation # 449

Die zerbröselnde Zeit – als Augenblick wie zeitlos.
Europa hat mit Hilfe der Schrift ihr Denken fleißig weiter gegeben, von Jahrhundert zu Jahrhundert. Auch die über die Vergänglichkeit von allem. Epikur und Epiktet können ein Lied davon singen, das kluge Köpfe immer wieder angestimmt haben. Umsonst. Gerade tut die species homo sapiens sapiens so, als sei sie am Ende dieser Geschichten angelangt, habe endgültig dem Werden und Vergehen Einhalt geboten, sie seien Herr des Geschehens: Dabei ist es ihnen nur gelungen, die Veränderungen scheinbar so zu beschleunigen, dass unsere Sinne – berauscht und benebelt ob der atenberaubenden Geschwindigkeit – das so flüchtig Wahrgenommene für festen Gund zu halten gerne bereit sind.
In einem soeben erschienenen Unterhaltungsroman ist Entsprechendes zu lesen, als wäre es ein Kochrezept: „Die Dinge, die in dieser Welt unveränderlich scheinen, mein Kind, Berge, Wohlstand, Kaiserreiche, ihre Beständigkeit ist nichts als eine Illusion. Wir glauben, dass die Dinge immer weiter bestehen bleiben, doch das liegt nur daran, dass unsere Leben so kurz sind…“ (S. 154 Wolkenkuckucksland. Roman btb 2023 von Anthony Doerr). In diesem fiktiven Narrativ geht es um die Belagerung von Konstantinopel, das seit 1453 Istambul heißt: „DIE STADT“. Ob Paris, Berlin oder Kopenhagen, ameisengleich bauen sie an bröselnden Türmen umsonst und versuchen die übergroßen Vorbilder zu kopieren.
Ein Tyrann wie der Nitup oder ein Clown wie der Trampel sind genauso flüchtig wie große Bündnisse oder todbringende Gerätschaften, die sich der menschliche Geist auszudenken versteht, um seine eigenen Werke vor der Zeit wieder zu zerstören. Die neuesten Spielzeuge, die der homo sapiens sapiens erfunden hat, könnten auch seine letzten sein. Denn sie haben das Zeug dazu, den bereits verinnerlichten Selbstbetrug noch zu toppen. Zumal nun auch bereits die Jüngsten mit in diesen schwindlig machenden Strudel gerissen werden. Elteren haben längst resigniert: Dem Geschrei der Kleinen ist nur noch eine Ende zu setzen, wenn man ihnen die nächsten Spiele oder Filme doch noch zugesteht. Bis die Süßen übermüdet wegdämmeren. Die sogenannten „großen Fünf“ beherrschen nicht nur die Trends an den Börsen, nein, sie haben auch die Europäer längst mit im Sack; von Rüstungsprodukten bis zum kleinsten schnurlosen Monitörchen. Und auf alle wirkt es so, als sei es eine Hilfe, mache das Leben bequemer und schaffe Freiräume für kreatives, eigenes Schaffen.
Die müden Blicke auf die Bildschirme verundeutlichen auf zauberhafte Weise die Wahrnehmung von sich und der Welt – panem et circenses hieß es früher einmal – jetzt spricht man von non-stop-day-and-night-program –
Wir Europäer haben uns nachhaltig umstellen lassen von englischen Einflüsterungen und Bilderfluten, der Brexit ist dabei genauso unterhaltend und eine Lügengeschichte wie die Hymnen auf die Freiheit, wenn es um gemeinsame Drohgesten und Aufrüstungen gegen alle geht, damit wir alle weiter im Hamsterrad des Konsumierens und der Wachstumsbotschaft vor uns hin dilirieren. Längst ist es uns zur Gewohnheit geworden, Bilder von Ballspielen vor einer brüllenden Horde von ausrastenden Menschen ohne jeden Übergang an solche von Kriegsschauplätzen mit all ihrem Leid und wahnsinnigen Zerstörungsfuror anzuschließen, umrandet von Flutkatastrophen oder Feuersbrünsten, als wären es Filme und nicht gleichzeitig stattfindende, mörderische Realitäten. Rückblicke zu den letzten Kriegen wirken demgegenüber wie Vorgeplänkel, die weinenden Mütter und Kinder damals wie heute führen nach wie vor nicht zu der alles entscheidenden Einsicht: Umsonst, Lüge, Leid, Tod -sonst nichts. Dass der Drogenkonsum in Europa weiter zunimmt – wen wundert es eigentlich? Die Medien berichten auch über diesen Trend wie über eine Wetterkarte, die lediglich natürliche Vorgänge abbilde, sonst nichts.
Und in den social media werden die Kommentare kürzer und kürzer, weil schon der nächste klick bedient werden will. Sonst nichts.