28 Jun

Europa – Meditation # 455

Die Quadratur des Kreises: Gefühle in Worte fassen.

Wenn es eng wird beim politischen Palaver, neigen Sprecher wie Zuhörer dazu, von den Inhalten auf die Form auszuweichen. Neues Beispiel: Die TV-Debatte zwischen Biden und Trump. Denn die inhaltlichen Punkte, die Biden ansprach, hätten längst ausgereicht, den Kontrahenten noch älter aussehen zu lassen, als er ist, weil dessen Lügen, Prozesse und Schmieraffären eines Präsidentschaftskandidaten einfach nicht würdig sind. Doch die Aussetzer, Pausen, Abbrüche und Versprecher des ehrenwerten anderen Kandidaten überlagerten massiv die Inhalte, die er sachlich vorzutragen versuchte; so konnten die Gegner schmunzelnd der Selbstdemontage Bidens beiwohnen, ohne die Untiefen des eigenen Kandidaten entlarvt zu sehen. Wie praktisch, denn wie beim Fieberthermometer wurden sofort die Zahlen für Trump in die Höhe getrieben, denn die Zahlen haben außer ihrem Zahlenwert keinen weiteren. Der Hintergrund dieser Fieberkurve allerdings müsste jedem halbwegs klar denkenden Bürger eine massiv abwärts gerichtete Kurve präsentieren. Tut sie aber nicht. Denn es sind die Gefühle, die in jedem Duell gewinnen, nicht die kühlen Argumente.

Nehmen wir erst einmal zwei Gefühlsmeere Europas: Die mit dem Rhein mittendrin und die mit der Loire. Wie verwandt doch die Gefühlswelten, bzw. Untiefen in beiden trüben Gewässern sind: beide wabern in einem selbstmitleidigen Wutfuror gegen die da oben, gegen die sogenannten besseren Kreisen, die ihre Uneinsichtigkeit mit Bildung zukleistern, gegen die Geldfüchse, gegen die Politi-Profis, die in Dauerschleife den Satz „dafür brauche man eben Expertise“ absondern, um sich unliebsamen Fragen scheinbar elegant zu entziehen, und natürlich gegen die big player der Börse wie der Schwerindustrie. Und um denen ein Ende zu bereiten, sollen ruhig mal die bis dahin als nicht regierungsfähig verteufelten Rechten nach dem Rechten sehen. Schlimmer kann es sowie so nicht kommen, sagen die frustrierten, abgehängten Bürger in der Lausitz genauso wie in den Hauts-de-France. Sie fühlen sich sowas von abgehängt und nicht mehr wertgeschätzt, so gedemüdigt und abgefertigt, dass sie sich nun wie auf dem Rücken einer Tsunami-Welle fühlen, die es endlich denen, die kein Interesse an ihren Sorgen haben, zeigen wird.

Aber auch diejenigen, die im letzten Jahrhundert von Europa nach Übersee ausgewandert waren, scheinen in verwandtem Fahrwasser zu dümpeln: Nicht nur im sogenannten Iron-Belt, nein, auch im gesamten mittleren Westen, aber auch in den Bergen und an den Küsten, überall sollen sie sich in ihre demolierten Wohnmobile verkriechen, sie sind ja selbst schuld – so das Mantra der amerikanischen Selbst-Erlösungserzählungen – und nun haben sie ja endlich einen beinharten Fürsprecher, der kein Blatt vor den Mund nimmt, das Blaue vom Himmel verspricht und der einzige ist, der sich um ihre Interessen kümmern will. Dafür spielt er elegant auf der Klaviatur der leeren Versprechungen, der probaten Feindbilder und der Halbwahrheiten, bzw. hohlen Behauptungen, die jeden Gegner ziemlich alt aussehen lassen. So kann man dann ordentlich den Lukas hauen, bis denen in Washington endlich die Luft ausgeht und der Richtige ans Ruder kommt. Dazu werden sie voller Inbrunst ihre Stimme abgeben, eine Gefühlsorgie sondergleichen – ganz ähnlich der in Europa – , die alles andere mit dem Wahltag wegwischen wird. Halleluja! Hier kommt nämlich auch noch ein religiöses Moment hinzu, das dem Gefühlsbeben zusätzlich einen doppelten Boden beschert.

Und die traditionellen Medien schauen mit ihrer rationalen Schreibe diesem Treiben zu, ohne sich klar zu machen, dass die eigentlichen Adressaten längst eine eigene Rationalität zelebrieren, die nur so von einem Feuerwerk von Glaubenssätzen für die politischen Bühne blinken, dass nicht mal mehr ein Joint nötig scheint, um sich sicher zu sein, dass man endlich auf dem richtigen Dampfer angeheuert hat.

24 Jun

Europa – Meditation # 454

Manchmal liegt in Worten Wahrheit, öfter nicht.

Die anspruchsvollen Medien hüben wie drüben empören sich jeden Tag seit Jahren über die Lügengeschichte eines ehemaligen Präsidenten und derzeitigen Favoriten auf das Amt im Weißen Haus oder über die Wortwolken aus Budapest oder vom Balkan. Das könnte beim Leser falsche Rückschlüsse auslösen: Wir durchschauen ihn, also kommt er damit auch nicht durch – oder: Wir lassen uns nicht belügen, wir stehen auf der Seite der Wahrheit. Wie naiv ist das denn? Ist es nicht absolut professionell, den Konkurrenten zu belügen, damit d e r Entscheidungen daraufhin fällt, die dem Lügner nützen? Dünnes Eis, spiegelglatt. Das ist die Sprache. Und wenn man dann noch die älteste und wirksamste rhetorische Figur ausgiebig benutzt – die Wiederholung – dann dient die Sprache jeder Botschaft unbedingt.

In Europa wird derzeit Immanuel Kant immer wieder beschworen, der ebenfalls sehr wortreich und für die meisten unverständlich scheinbar Richtiges zu sagen hat: Nutzt euren Verstand, lasst euch nicht betrügen! Doch die Lügen haben lange Beine und einen noch längeren Atem.

Die Beispiele aus der Geschichte lassen sich gar nicht alle aufzählen: Kain, Belsazer, Odysseus, Catilina, Cäsar, Cleopatra….und als einer der peinlichsten Höhepunkte der Anstreicher aus Braunau nicht zu vergessen, der wie der Trampel aus Mannahatta einfach drauflos redet, bis keiner mehr zuhört. Aber das macht rein gar nichts. Denn vor dem Spiegel sagt die raunende Stimme sowie so nichts anderes als: „Du bist der Größte! Die sind dir alle nicht gewachsen! Wir schreien sie einfach nieder! “ Und warum sind die miesen Ratten uns nicht gewachsen? Weil sie nicht glauben wollen, dass es nicht um Wahrheit geht, wenn in großen und vor allem unendlich langen Reden der Weltuntergang beschworen wird, von dem nur e i n e r die Welt retten kann, nämlich der, der am überzeugendsten zu lügen versteht.

Denn es geht dabei ja gar nicht um Wahrheiten, nein, es geht um Gefühle. Auf der einen Seite die von Minderwertigkeit, die durch Lautstärke und Flucht nach vorne verscheucht werden sollen, und auf der anderen Seite um Hass gegen die Mächtigen, die dem einfachen Mann seinen Schneid abgekauft haben, die zu Unrecht mächtig sind, die nur mit Lügen (!) und Bestechung dahin gelangt sind, wo sie jetzt zu unrecht stehen. Und der schlecht gelaunte Schreihals vorne am Mikrofon spürt und fühlt, wie sie an seinen Lippen hängen, wie sie die Worte inhalieren, wie egal es ist ihnen ist, was da an Worttiraden auf sie nieder prasselt, sie fühlen einfach, wie gut es tut, wenn der beneidete

und gehasste Goliath vom goldigen David niedergemacht wird: Soll der Böse doch unter dem Berg an Worten ersticken, wir trampeln das ganze noch ordentlich fest, applaudieren und hofieren den furchtlosen Lügner, dem sie nun auch noch jede Menge Geld in den Säckel schütten, damit er die nächsten Lügen-Kampagnen auch finanzieren kann, damit „ihre eigenen Wahrheiten“ den längeren Atem haben werden.

Wie könnte man diesem Lügen-Tsunami wirkungsvoll entgegen treten?

Nicht mit Worten jedenfalls, aber mit Taten. Die bisherigen Nichtwähler müssen mobilisiert werden, deren Gefühle müssen getriggert werden. Denen müssen die Medien klar und deutlich und immer wieder vor Augen führen: Wenn ihr euch nicht entscheidet, eure Stimme abzugeben, werden die Lügenbarone und ihre jaulenden Scharen triumphieren. Wollt ihr das wirklich zulassen?

22 Jun

Europa – Meditation # 453

Der ersten folgt endlich die zweite Revolution!

Denn nur im Wandel liegt der natürliche Weg des Lebens. Und die künstlichen Gebilde, Wege und Gebäude, die sich die Menschen auf ihrem Weg – individuell wie historisch – dabei bauen, sind nur vorübergehende Manifestationen einer Sehnsucht nach Dauer, Beständigkeit und Sicherheit. Die aber bietet die Natur, zu der selbstverständlich auch die Tiere und Pflanzen gehören, nur für Augenblicke.

Die sogenannte Neuzeit – beschworen vor dem Hintergrund des Bildes von der Wiedergeburt der Antike, um dem flüchtigen Augenblick wenigstens ein bisschen Dauer zu verleihen – schien dann ihren ersten Höhepunkt mit der großen Revolution von 1789 erreicht zu haben. Obwohl es gar keine Revolution war – es sei denn, wir nennen jede Veränderung der inneren und äußeren Natur eine Revolution – denn der Raubbau am überbordenden Reichtum der belebten und unbelebten Natur ging ungebrochen weiter; statt Comte war man nun unabhängiger Fabrikbesitzer oder Großhändler oder Reeder oder Bankherr oder beamteter Wissenschaftler. Alle bemüht, die Geldsäcke praller und praller zu füllen, während am anderen Ende der Gesellschaftsleiter, der bürgerlichen, die Arbeiter zwar nach und nach mit brauchbarer Kleidung versehen wurden, aber weiter ein Leben nah am Abgrund zu führen hatten, anfangs auch mit unbarmherziger Kinderarbeit, tausendfach. Veloziferisch nannte ein Schreibtischhengst die Zeit und traf den Nagel auf den Kopf – bis heute – denn Beschleunigung, „das größte Unheil unserer Zeit“, klettert gerade mit dem Algorithmus als „Basis“ auf schier ungeahnte Höhen. Autobahnen, Tiefgaragen, Auto- und Flugzeugfriedhöfe (was für eine zynische Bildersprache: Flugzeuge werden jetzt also auch beerdigt?!) pflastern den mutwillig versiegelten Boden kopflos und übermäßig. Um im Bild zu bleiben: allmählich wird die Luft dünn und dünner, als müssten wir den Mont Everest besteigen. Wozu?

So steht im Grunde nicht die zweite Revolution an (die erste war ja überhaupt keine), sondern die endgültige: weg vom Individualverkehr (man stelle sich vor, wie viel Platz es plötzlich in den großen Städten für Parks, Alleen und Wasserspiele gäbe, wie viele Menschen nicht bei Verkehrsunfällen ums Leben kämen, wie frisch und gesund die Luft wäre. Und all die Menschen, die dann nicht mehr an Fließbändern für Blechlawinenprodukte ihre Lebenszeit vergeudeten, könnten endlich innovativ die längst notwendigen Reparaturen des ruinierten Globus in Angriff nehmen. Für Arbeitslosigkeit wäre da wirklich kein Raum mehr. Also, was soll das pharisäische Geraune vom Kollaps der Wirtschaft, wenn wir nicht fleißig weiter beschleunigen, ausbeuten und ruinieren? Das sind doch nur die Platzhalter all derer, die vom Ruin profitieren.

Und Geld und Eigentum sind auch nichts anderes als vorübergehende Vereinbarungen auf ein Machtspiel, bei dem es zwar einzelne Gewinner gibt, dafür aber zahllose Verlierer. Und der Mörtel, der dieses unredliche Spiel schon viel zu lange zusammen babt, ist nichts anderes als Gewalt. Entweder anonym im Konkurrenzkampf der Kämpfer auf dem Marktplatz oder im Gewand staatlicher Unparteilichkeit – also „im Namen aller“, die dann eben über diesen Umweg manchem nutzt, nicht aber der Gemeinschaft. Die scheinbare Richtigkeit dieser Gewohnheiten redet lediglich die litaneienhafte Wiederholung herbei. Schluss damit. Punkt.

Besonders der sogenannte Nationalismus hat zu diesen gewaltsamen Auswüchsen geführt: Was wäre nicht alles möglich geworden, wenn die Millionen jungen Männer, die in den „Schlachtfesten“ der letzten beiden Jahrhunderte – in Asien, Amerika und Europa – verbluteten, ihre phantastischen Leben hätten führen können und mit ihren Begabungen und Ideen der Geschichte auch damals schon eine ganz andere Richtung hätten mitgeben können? Eine kindliche Frage? Das kann nur der sagen, der noch einmal davon gekommen ist und im Wohlstandsbrei wie im Schlaraffenland sich suhlt.

Es ist eine gute Zeit zu leben, denn sie fordert geradezu heraus, keine Lust mehr zu haben auf panem et circenses, sondern stattdessen solidarisch – von Region zu Region in ganz Europa – anzupacken, den Schlamassel nicht länger elegisch hinzunehmen, sondern – auch jenseits der leer laufenden Parteiendemokratie-Gewohnheiten – eigenverantwortlich auf die Straße zu gehen. Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen, lautete neulich ein Slogan. Der neue sollte lauten: Habe Mut, mit deinem Nachbarn zusammen in deiner Straße anzupacken, deine Region in den Blick zu nehmen und in überschaubaren praktischen Bündnissen da anzufangen, wo du gerade bist!

Und lasst euch weder ablenken noch verführen von Unterhaltungsprogrammen oder Politikgesülze. Die Veränderbarkeit der bestehenden Welt ist nämlich überhaupt nicht kompliziert, sie ist uns nur aus der Hand genommen worden von denen, die von sich sagen, sie seien die Spezialisten! So?