Europa – Meditation # 455
Die Quadratur des Kreises: Gefühle in Worte fassen.
Wenn es eng wird beim politischen Palaver, neigen Sprecher wie Zuhörer dazu, von den Inhalten auf die Form auszuweichen. Neues Beispiel: Die TV-Debatte zwischen Biden und Trump. Denn die inhaltlichen Punkte, die Biden ansprach, hätten längst ausgereicht, den Kontrahenten noch älter aussehen zu lassen, als er ist, weil dessen Lügen, Prozesse und Schmieraffären eines Präsidentschaftskandidaten einfach nicht würdig sind. Doch die Aussetzer, Pausen, Abbrüche und Versprecher des ehrenwerten anderen Kandidaten überlagerten massiv die Inhalte, die er sachlich vorzutragen versuchte; so konnten die Gegner schmunzelnd der Selbstdemontage Bidens beiwohnen, ohne die Untiefen des eigenen Kandidaten entlarvt zu sehen. Wie praktisch, denn wie beim Fieberthermometer wurden sofort die Zahlen für Trump in die Höhe getrieben, denn die Zahlen haben außer ihrem Zahlenwert keinen weiteren. Der Hintergrund dieser Fieberkurve allerdings müsste jedem halbwegs klar denkenden Bürger eine massiv abwärts gerichtete Kurve präsentieren. Tut sie aber nicht. Denn es sind die Gefühle, die in jedem Duell gewinnen, nicht die kühlen Argumente.
Nehmen wir erst einmal zwei Gefühlsmeere Europas: Die mit dem Rhein mittendrin und die mit der Loire. Wie verwandt doch die Gefühlswelten, bzw. Untiefen in beiden trüben Gewässern sind: beide wabern in einem selbstmitleidigen Wutfuror gegen die da oben, gegen die sogenannten besseren Kreisen, die ihre Uneinsichtigkeit mit Bildung zukleistern, gegen die Geldfüchse, gegen die Politi-Profis, die in Dauerschleife den Satz „dafür brauche man eben Expertise“ absondern, um sich unliebsamen Fragen scheinbar elegant zu entziehen, und natürlich gegen die big player der Börse wie der Schwerindustrie. Und um denen ein Ende zu bereiten, sollen ruhig mal die bis dahin als nicht regierungsfähig verteufelten Rechten nach dem Rechten sehen. Schlimmer kann es sowie so nicht kommen, sagen die frustrierten, abgehängten Bürger in der Lausitz genauso wie in den Hauts-de-France. Sie fühlen sich sowas von abgehängt und nicht mehr wertgeschätzt, so gedemüdigt und abgefertigt, dass sie sich nun wie auf dem Rücken einer Tsunami-Welle fühlen, die es endlich denen, die kein Interesse an ihren Sorgen haben, zeigen wird.
Aber auch diejenigen, die im letzten Jahrhundert von Europa nach Übersee ausgewandert waren, scheinen in verwandtem Fahrwasser zu dümpeln: Nicht nur im sogenannten Iron-Belt, nein, auch im gesamten mittleren Westen, aber auch in den Bergen und an den Küsten, überall sollen sie sich in ihre demolierten Wohnmobile verkriechen, sie sind ja selbst schuld – so das Mantra der amerikanischen Selbst-Erlösungserzählungen – und nun haben sie ja endlich einen beinharten Fürsprecher, der kein Blatt vor den Mund nimmt, das Blaue vom Himmel verspricht und der einzige ist, der sich um ihre Interessen kümmern will. Dafür spielt er elegant auf der Klaviatur der leeren Versprechungen, der probaten Feindbilder und der Halbwahrheiten, bzw. hohlen Behauptungen, die jeden Gegner ziemlich alt aussehen lassen. So kann man dann ordentlich den Lukas hauen, bis denen in Washington endlich die Luft ausgeht und der Richtige ans Ruder kommt. Dazu werden sie voller Inbrunst ihre Stimme abgeben, eine Gefühlsorgie sondergleichen – ganz ähnlich der in Europa – , die alles andere mit dem Wahltag wegwischen wird. Halleluja! Hier kommt nämlich auch noch ein religiöses Moment hinzu, das dem Gefühlsbeben zusätzlich einen doppelten Boden beschert.
Und die traditionellen Medien schauen mit ihrer rationalen Schreibe diesem Treiben zu, ohne sich klar zu machen, dass die eigentlichen Adressaten längst eine eigene Rationalität zelebrieren, die nur so von einem Feuerwerk von Glaubenssätzen für die politischen Bühne blinken, dass nicht mal mehr ein Joint nötig scheint, um sich sicher zu sein, dass man endlich auf dem richtigen Dampfer angeheuert hat.