Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 175
Die neue Botschaft ebnet sich ihren Weg auf Kreta.
Ein scheinbar ganz normaler Tag hier unten im Hafen, während oben im Palast des Minos die alten Ratsherren tagen und tagen. Geheim natürlich. Schließlich geht es um alles, um die Wahl des nächsten Minos, eine Wahl, die Europa und ihre Zwillinge in die Knie zwingen soll. Gerade wird ein Segler am Kai vertäut, der eben eingelaufen war. Nichts besonderes, scheinbar. Locker läuft ein junger Mann über die schmale Planke an Land, wendet sich zielstrebig Richtung Palast, von niemandem beachtet. Doch seine Botschaft wird da oben einschlagen wie ein Blitzschlag, wird die Ratsherren wie aufgescheuchte Hühner durcheinander wirbeln. Denn ihre Pläne werden zu Staub zerfallen, der clandestine Versuch einer Demütigung Europas und ihrer Zwillinge wird ihnen noch übel aufstoßen.
„Wer seid ihr, was wollt ihr? Ihr habt hier keinen Zutritt ohne Geleitbrief!“ schnauzt die Wache den Fremden an.
„Es ist dringend. Ich bringe Neuigkeiten aus Sidon, vom Tempel des Baal. Zieht nicht den Zorn dieses Gottes auf euch!“ erwidert drohend der Fremde.
Dem fährt es eiskalt unter die Haut, was er da hört: Sidon, Baal, Zorn Gottes! Dabei hat Berberdus ausdrücklich betont, niemanden herein zu lassen, niemanden. Der Rat treffe gerade wichtigste Entscheidungen. Doch da hört er sich selbst schon kleinlaut antworten:
„Warte hier, Fremder! Ich werde den Vorsitzenden des Rats fragen, ob ihr vorgelassen werdet!“
„Ja, ja, mach schon, die werden sich sicher freuen zu hören, was ich zu melden habe.“
Der verunsicherte Wächter läuft durch die düsteren Gänge, seine eigenen Schritten hallen wie Hohngelächter in seinen Ohren. Er hat Angst, bestraft zu werden. Diese alten Herren machen kurzen Prozess mit ihm, geht es ihm ätzend durch den Kopf. Warum hab ich den nicht einfach weggeschickt? Jetzt klopft er leise an die Tür des altehrwürdigen Ratssaals. Drinnen Stimmengewirr. Er muss noch einmal klopfen. Lauter.
„Was störst du uns? Du sollst Wache halten, sonst nichts!“ faucht ihn Gromdas an, von dem er weiß, dass er nicht nur bekannt ist für seine Intrigen – sondern auch für seine Quälereien.
„Herr, da ist ein Fremder am Tor, er sagt, er bringe wichtige Neuigkeiten aus Sidon, aus dem Tempel des Baal!“ Er verneigt sich tief, um nicht die Reaktion sehen zu müssen, die seine Nachricht vielleicht auslösen könnte. Ihm scheint es aber eine Ewigkeit zu sein, bis der Ratsherr ihm antwortet, eher flüsternd:
„Was, wie, wer? Bring ihn her, schnell!“
Er verbeugt sich noch tiefer, dreht sich um und rennt zurück. Das Knallen der Tür zum Ratssaal gibt ihm noch die Gewissheit mit auf den Weg durch die kalten, dunklen Gänge, dass seine Nachricht wohl nicht günstig aufgenommen worden ist.
„Los, komm, steh hier nicht so blöd rum!“ schnauzt er den Fremden an, der auch noch frech zu grinsen wagt.
Im Ratssaal allerdings herrscht bedrückende Stille. Verstörte Blicke gehen von Ratsherr zu Ratsherr. Keiner will als erster antworten auf diese ihnen gar nicht genehme Ankündigung. So klingt auch das erneute Pochen an die Tür viel lauter und drohender als das erste, jetzt, wo allen klar ist, dass vielleicht sich ihre wunderbaren Pläne in Nichts auflösen könnten. Erwartungsvoll schauen sie zur Tür, die Zygmontis, der sich schon als nächsten Minos gesehen hatte, jetzt aufreißt.
„Tretet ein, Fremder, wir wollen gerne die Neuigkeiten aus Sidon hören!“ empfängt er mit Säuselstimme den jungen Mann. Der hätte sich aber auch etwas Vernünftiges anziehen können, wenn er vor dem Rat der Alten auftritt, geht es Pallnemvus, dem reichsten Mann auf der Insel, durch den Kopf. Konziliant leitet er ihn nach vorne an den langen Beratungstisch, wo die anderen Ratsherren erwartungsvoll dem Mann aus Sidon entgegen blicken. Der Wächter hatte sich gleich wieder aus dem Staub gemacht. Der Fremde aber genießt seinen Auftritt, schaut schmunzelnd in die Runde, sagt eine ganze Weile gar nichts, nickt nur still vor sich hin, bevor er sich räuspert und dann sagt:
„Das Orakel in Sidon, im Tempel des Baal, hat Europa und den Zwillingen offenbart, dass sie eine neue Epoche auf Kreta einleiten werden, wenn sie wieder zurück sein werden.“