18 Jun

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 175

Die neue Botschaft ebnet sich ihren Weg auf Kreta.

Ein scheinbar ganz normaler Tag hier unten im Hafen, während oben im Palast des Minos die alten Ratsherren tagen und tagen. Geheim natürlich. Schließlich geht es um alles, um die Wahl des nächsten Minos, eine Wahl, die Europa und ihre Zwillinge in die Knie zwingen soll. Gerade wird ein Segler am Kai vertäut, der eben eingelaufen war. Nichts besonderes, scheinbar. Locker läuft ein junger Mann über die schmale Planke an Land, wendet sich zielstrebig Richtung Palast, von niemandem beachtet. Doch seine Botschaft wird da oben einschlagen wie ein Blitzschlag, wird die Ratsherren wie aufgescheuchte Hühner durcheinander wirbeln. Denn ihre Pläne werden zu Staub zerfallen, der clandestine Versuch einer Demütigung Europas und ihrer Zwillinge wird ihnen noch übel aufstoßen.

„Wer seid ihr, was wollt ihr? Ihr habt hier keinen Zutritt ohne Geleitbrief!“ schnauzt die Wache den Fremden an.

„Es ist dringend. Ich bringe Neuigkeiten aus Sidon, vom Tempel des Baal. Zieht nicht den Zorn dieses Gottes auf euch!“ erwidert drohend der Fremde.

Dem fährt es eiskalt unter die Haut, was er da hört: Sidon, Baal, Zorn Gottes! Dabei hat Berberdus ausdrücklich betont, niemanden herein zu lassen, niemanden. Der Rat treffe gerade wichtigste Entscheidungen. Doch da hört er sich selbst schon kleinlaut antworten:

„Warte hier, Fremder! Ich werde den Vorsitzenden des Rats fragen, ob ihr vorgelassen werdet!“

„Ja, ja, mach schon, die werden sich sicher freuen zu hören, was ich zu melden habe.“

Der verunsicherte Wächter läuft durch die düsteren Gänge, seine eigenen Schritten hallen wie Hohngelächter in seinen Ohren. Er hat Angst, bestraft zu werden. Diese alten Herren machen kurzen Prozess mit ihm, geht es ihm ätzend durch den Kopf. Warum hab ich den nicht einfach weggeschickt? Jetzt klopft er leise an die Tür des altehrwürdigen Ratssaals. Drinnen Stimmengewirr. Er muss noch einmal klopfen. Lauter.

„Was störst du uns? Du sollst Wache halten, sonst nichts!“ faucht ihn Gromdas an, von dem er weiß, dass er nicht nur bekannt ist für seine Intrigen – sondern auch für seine Quälereien.

„Herr, da ist ein Fremder am Tor, er sagt, er bringe wichtige Neuigkeiten aus Sidon, aus dem Tempel des Baal!“ Er verneigt sich tief, um nicht die Reaktion sehen zu müssen, die seine Nachricht vielleicht auslösen könnte. Ihm scheint es aber eine Ewigkeit zu sein, bis der Ratsherr ihm antwortet, eher flüsternd:

„Was, wie, wer? Bring ihn her, schnell!“

Er verbeugt sich noch tiefer, dreht sich um und rennt zurück. Das Knallen der Tür zum Ratssaal gibt ihm noch die Gewissheit mit auf den Weg durch die kalten, dunklen Gänge, dass seine Nachricht wohl nicht günstig aufgenommen worden ist.

„Los, komm, steh hier nicht so blöd rum!“ schnauzt er den Fremden an, der auch noch frech zu grinsen wagt.

Im Ratssaal allerdings herrscht bedrückende Stille. Verstörte Blicke gehen von Ratsherr zu Ratsherr. Keiner will als erster antworten auf diese ihnen gar nicht genehme Ankündigung. So klingt auch das erneute Pochen an die Tür viel lauter und drohender als das erste, jetzt, wo allen klar ist, dass vielleicht sich ihre wunderbaren Pläne in Nichts auflösen könnten. Erwartungsvoll schauen sie zur Tür, die Zygmontis, der sich schon als nächsten Minos gesehen hatte, jetzt aufreißt.

„Tretet ein, Fremder, wir wollen gerne die Neuigkeiten aus Sidon hören!“ empfängt er mit Säuselstimme den jungen Mann. Der hätte sich aber auch etwas Vernünftiges anziehen können, wenn er vor dem Rat der Alten auftritt, geht es Pallnemvus, dem reichsten Mann auf der Insel, durch den Kopf. Konziliant leitet er ihn nach vorne an den langen Beratungstisch, wo die anderen Ratsherren erwartungsvoll dem Mann aus Sidon entgegen blicken. Der Wächter hatte sich gleich wieder aus dem Staub gemacht. Der Fremde aber genießt seinen Auftritt, schaut schmunzelnd in die Runde, sagt eine ganze Weile gar nichts, nickt nur still vor sich hin, bevor er sich räuspert und dann sagt:

„Das Orakel in Sidon, im Tempel des Baal, hat Europa und den Zwillingen offenbart, dass sie eine neue Epoche auf Kreta einleiten werden, wenn sie wieder zurück sein werden.“

10 Jun

Europa – Meditation # 452

                 Der Turmbau im Silicium-Tal  (Teil 2)
Jeder in seiner Blase, jeder will sich als „Sieger“ sehen – nach dieser Europa-Wahl, blitzschnell kommen die Zahlen auf den Bildschirm. Sie spiegeln den Europäern ihre Gedanken wider, als wären es in Stein gemeißelte Botschaften. „Hochrechnungen“ – ein Hoch auf das Rechnen, es gibt so ein gutes Gefühl von Klarheit, Sicherheit, Wahrheit, ja sogar Schönheit! Scheinbar. Aber die Zahlen haben keine Sprache, sie sind furchtbar stumm und kalt!
Gleichzeitig erwärmt sich die Atmosphäre mehr und mehr, Starkregen, Stürme, Überschwemmungen, Waldbrände liegen längst in der globalen Berichterstattung weit vorne, und die Adressaten gewöhnen sich an solche Meldungen, als wären es die letzten Sportergebnisse.  Und wieder baut der homo sapiens weiter an seinem Silicium-Turm, schmückt die blendende Fassade mit graphischen Darstellungen – Kurven, Vektoren, die alle möglichst nach oben weisen – und genehmigt sich den nächsten  „energy-drink“. Gleichzeitig rückt er mehr und mehr ab von dem, was ist und von dem er selbst ein Teil ist: der Natur. Wie mit Lego-Steinen baut er in Tag- und Nachtschichten an „seiner Welt“ (als wäre er endlich der  Besitzer der Welt/“macht euch die Erde untertan!“), die ihm nur als solche erscheint, wenn er mit vollen Tüten aus einer Glitzer-Passage tritt oder bräsig im Sessel irgendeine austauschbare „late-night-show“ zu inhalieren versucht. 
Man muss wirklich kein Sterndeuter sein, wenn man das „Veloziferische“ – das größte Unheil unserer Zeit (Goethe) – als Vegetieren von der Hand in den Mund bezeichnet: So gehen alle Nährstoffe nur in den anschwellenden Bauch; das Gehirn aber bleibt sträflich unterversorgt, leidet nicht nur an Sauerstoffmangel, sondern auch an profunden Grundstoffen, um sich doch noch als selbstständig denkender Mensch wie Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Schlamassel zu ziehen. Zu schnell huschen die materiellen genauso wie die intellektuellen Angebote am gierigen Auge vorbei. Leichtfertig delegiert der Europäer immer mehr Not wendende Arbeit an Apparate, die keine moralischen Bedenken kennen, die nur das nach oben lassen, was am häufigsten angeklickt wird. So kommt dem Freizeit-Hengst zunehmend der Unterschied zwischen Qualität und Quantität abhanden. 
Dabei hat es in der  Geschichte der Menschheit schon  immer die beharrlichen Rufer in der Wüste gegeben, die dem Flüchtling Mensch seine Angst austreiben wollten. Statt mutig zu rufen: „Komm mit, Angst!“, trampelt er auf ihr herum, als wäre es Unrat, Schrott, Rost, eben etwas Unmenschliches. Wie sagte schon der uralte Aristoteles: „Wer seine Ängste überwunden hat, ist wirklich frei.“ Und überwunden heißt jedoch alles andere als tot getrampelt. 
Und während dieser Text erfunden wird, wächst gleichzeitig nicht nur der Giftturm an Silicium – wie auch der Berg an weiter strahlenden Uranstäben, die wir lagern wie all den anderen Müll – sondern auch der Müll in den Bergen und auf den riesigen Halden in Afrika und Asien wird mehr und mehr. Für all das haben wir das harmlose Wörtchen „Entsorgung“ erfunden, mit dem wir schamhaft unsere Ratlosigkeit und Sturheit bemänteln. Der Begriff „Entsorgung“ nimmt uns gewissermaßen die Sorge, uns über die eigenen Überforderungen ordentlich Sorgen machen zu müssen Denn für alles gibt es eine „Lösung“ – so auch für die die rasant wachsende Zahl (!) an internet-süchtigen Jugendlichen: längst bauen wir fleißig an neuen Kliniken (natürlich in anspruchsvollstem Design und natürlich voll digitalisiert, auf allen Ebenen!), in denen solche Kranken dem Blick der Öffentlichkeit entzogen werden können. Da schließt sich dann der Kreis – oder sollte man bessere sagen: stürzt die heißlaufende Spirale torkelnd in ihre eigenen Windungen hinab, ins Inferno, wie in Dantes „göttlicher Komödie“ ( es ist wahrlich zum Totlachen!). Und wenn wir schon die „Alten“ bemühen, dann darf natürlich neben Dante und Aristoteles auch Sophokles nicht fehlen, von dem das geflügelte und leichtfertig allzu oft zitierte Wort/Werbegag stammt:
„Ungeheuer ist viel – aber nichts ungeheurer als der Mensch“. Keine Angst?
Was wäre der homo sapiens ohne den Superlativ? Ein Hanswurst, ein Wurm, ein Staubkorn. Ein nichts. 
05 Jun

Europa – Meditation # 451


Der Turmbau im Silicium-Tal. (Teil 1)
1825 merkt Goethe zum Zeitgeist damals an: „das Veloziferische“ sei das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt…und so immer von der Hand in den Mund lebt.“ Velocitas – die Eile und Luzifer, der Lichtträger – ein schräger Neologismus, der aber auf den Punkt bringt, was das Problem des homo sapiens war und ist. Da sich das Chaos, das wir Wirklichkeit nennen, nicht in Worte fassen lässt, vereinbaren die Menschen „einfach“, dass es gar kein Chaos ist, sondern „nur“ ziemlich komplex und deshalb schwer in Worte fassbar. Nur Geduld und immer wieder neue Umschreibungen könnten es möglich machen, zutreffende Annäherungen an das, was Wirklichkeit wirklich ist, aus dem Wörterhut zu zaubern. Und es natürlich nicht Zauberei, sondern harte Arbeit zu nennen. Einer der besonders geduldigen und ausdauernden Wortkünstler ist da sicher ein gewisser Herr Kant, der seine Wortgirlanden – mit vielen Nebensätzen verziert – zu scheinbar logischen Ketten verknüpfte, die den Leser unbedingt ermüden werden, was in der Regel dazu führt, dass man erschöpft zustimmt, weil man selbst gar nicht erst zu Wort kam. Eine altbewährte Methode, die auch weniger logisch sprechende Schreihälse schon umwerfend erfolgreich praktizierten. Es muss also immer wieder das Tempo erhöht werden, um in immer kürzerer Zeit immer mehr Wörter, Wortketten und Worttsunamis unterzubringen. Maschinen – von Menschen erfunden – sind da noch effektiver, wenn man einfach alles zwischen 0 und 1 unterzubringen vermag. Und das ist möglich: der Algorithmus liefert nun die beschleunigte Beschleunigung der Wörter rund um die Uhr, pausenlos. Währenddessen kann sich der homo sapiens vom angestrengten Zuhören schlafend erholen oder zumindest meinen, dass er das tut. Denn weder kann er der Wortfülle in sogenannter Echtzeit folgen, noch auch nur Teile davon im Gedächtnis behalten, weil alles viel zu schnell vor seinen Sinnen abläuft. „Von der Hand in den Mund“ – gut, chips ja, Wissen nein. Früher – bereits in der Antike lernte man die 22000 Verse der Ilias und Odyssee auswendig, was zusätzlich angenehme Folgen für das Fassungsvermögen des Gehirns hatte: es vermochte mehr und mehr zu speichern. Wenn heutzutage ein Deutschlehrer die abwegige Aufgabe stellt, ein Gedicht – von sagen wir drei Ströphchen – auswendig zu lernen, werden nicht nur die Schülerinnen und Schüler vehement protestieren, nein, auch die Eltern werden sofort per mail eingreifen: Das sei angesichts der hohen Anforderungen einfach nicht zumutbar, außerdem müsse gerade mit dem Nachhilfelehrer für eine Bio-Klassenarbeit geübt werden! Folge: das Gehirn wird unablässig mit digitalem Trommelfeuer beschossen, die Getroffenen liegen schon bald in den Seilen – oder lagen längst schon in denselben, vom letzten Nachtprogramm oder dem game-boy-level-fight. So kann gar nichts mehr reif werden, weil ja gar nichts mehr gepflanzt wird; es werden höchstens noch Glitzer-Luftschlangen beim Versinken im Off wahrgenommen. Zu denen gesellen sich dann obendrein Schnipsel von politischen Geschehnissen in der Ukraine, Palästina, der Sahel-Zone, Mexiko und Afghanistan, die genauso schnell wie das sonstige Unterhaltungsprogramm bloß aufflimmern und wieder verschwinden – in den Ohren vielleicht noch begleitet von einem schrillen Musikprogramm, das die Kopfhörer unerbittlich ins Ohr tropfen lassen. Alles in allem ein übler Gift-Cocktail.

Der Turmbau im Silicium-Tal ist nichts weiter als ein Trugbild, in dem sich der moderne Mensch wie in einem Vixierspiegel berauscht verliert und alle Möglichkeiten einer Selbstbestimmung an Maschinen deligiert hat. Wenn er sich aber weiter vom zunehmenden Tempo der medialen Dusche berieseln lässt, entgleitet ihm nach und nach jede Teilhabe und humane Gestaltungsmöglichkeit. Dieser Turm ist eine Fata-Morgana, die nur noch in Algorithmen als Mörtel aufgebaut und gleichzeitig wieder als Datei zerbröselt wird.
Wenn Europa aus diesem „größten Unheil unserer Zeit“ entkommen will, wird es nötig sein, Wachstum und Beschleunigung durch eine neue Zauberformel zu ersetzen: Entschleunigen und kleine Flamme. Beides würde eine Wiedergeburt der eigenen körperlichen und geistigen Kräfte in Gang setzen, ein Lebensgefühl der Teilhabe an der Natur wiedererwecken und wirkliche Lebensfreude wachsen lassen. Die eigentliche Renaissance des Menschen und allen kulturellen Lebens weltweit. Mittelalter und Neuzeit würden als zwei selbstbetrügerische Irrwege abgehakt sein; der homo sapiens springt als Münchhausen von der Kugel und wandert stattdessen erstmals als friedliebendes Gemeinschaftswesen durch eine massiv zu reparierende Welt, in der Geld und Eigentum keine Rolle mehr spielen werden.