Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 183

Vom Gerücht zum Gericht. Europa, die starke Frau an der Spitze. (Teil I)
Wie ein Lauffeuer rennt das Gerücht durch den Hafen, hinauf zum Palast, dann über die ganze Insel. Und jeden Tag kommen neue Einzelheiten dazu: Der Rat der Alten habe in einer Sondersitzung den Anschlag beschlossen, Berberdus habe alle gezwungen, dem Attentat zuzustimmen, ohne Gegenstimmen sei es beschlossen worden, Zygmontis habe Pallnemvus überredet, ordentlich Bestechungsgelder zu zahlen, die Palastwachen seien mit ins Boot geholt worden, selbst die jungen Priesterinnen im Tempel der großen Göttin sollten umgarnt werden – als Spioninnen und Wasserträgerinnen. Und so weiter und so weiter.
Im Hafen surrte und brummte das Thema wie eine wilde Hornissenschar. Und oben, im Palast, ist es dann Gromdas, der seine eigenen Mitratsherren ans Messer liefert. Natürlich verspricht er sich davon so einiges bei Europa und ihren Söhnen.
„Wer will mich sprechen?“ fragt Europa ihren Oberwächter, Sodontis, „wer?“
„Gromdas, es sei sehr dringend!“ sagt in einer besonders tiefen Verneigung sehr leise, aber auch sehr deutlich, Sodontis darauf.
Europa nickt. „Schick ihn in den Thronsaal, ich werde ihn warten lassen.“
Gromdas, der ja allzu bekannt ist für seine Intrigen, ist fest entschlossen, alle ans Messer zu liefern, damit er davon kommt. Aber dass Europa ihn jetzt so lange warten lässt, ist kein gutes Zeichen, denkt er. Durchschaut sie ihn vielleicht sogar? Unruhig geht er in dem leeren Saal auf und ab, lauscht auf jedes Geräusch. Wo bleibt sie denn? Vielleicht will sie ihn festnehmen, vielleicht haben Pallnemvus oder Keltberias bereits gestanden, vielleicht…Da wird endlich die große Flügeltür geöffnet und da ist auch Europa, allein. Gut, denkt, Gromdas, gut, sie weiß also noch nichts. Doch da irrt er völlig. Europa hat längst von den Gerüchten gehört, auch hatte sie im Gespräch mit Chandaraissa ähnliche Überlegungen angestellt, nachdem sie die Falle vor der Höhle gesehen hatte.
Gromdas verbeugt sich möglichst gelassen, Europa geht langsam zum Thron, setzt sich, schaut ihm beim Verbeugen lange zu, um ihn dann aus seiner unbequemen Haltung zu erlösen:
„Nun, mein lieber Gromdas, du willst mich sprechen? Es sei dringend?“
Gromdas versucht aus ihrem Tonfall heraus zu hören, ob sie mit ihm spielt oder ob sie tatsächlich neugierig ist.
Nun steht er wieder aufrecht vor ihr. Er fährt innerlich heftig zusammen, denn so hat er Europa noch nie gesehen: Unnahbar, mit bohrendem Blick sitzt sie auf dem Thron, als wäre er in einem Verhör.
„Ich danke dir, Europa, dass du mir dein Ohr leihen willst. Ich muss dir eine unangenehme Botschaft mitteilen.“
Gromdas weiß, jetzt gibt es kein Zurück mehr. All seine innere Sicherheit, die er eben noch glaubte gehabt zu haben, ist wie weggeschmolzen. Pure Angst wächst in ihm wie ein Schlinggewächs, das ihm den Atem abwürgt.
„Nun, du bist der Bote, ich weiß sehr wohl zu unterscheiden.“
Was soll das denn heißen, fährt es Gromdas durch den Kopf. Steckt da schon eine Drohung drin? Eine sehr unangenehme Stille füllt plötzlich den Saal. Wortlos schauen die beiden sich an. Gromdas atmet tief durch, knetet langsam seine Finger, räuspert sich verlegen und lässt dann endlich die Katze aus dem Sack:
„Es war ein Anschlag, oben vor dem Höhleneingang, der im Rat geplant wurde, nachdem den Ratsherren von einem Fremden ein Tipp gegeben worden war.“
Europa ist sprachlos. Liefert Gromdas sich da gerade selbst ans Messer oder nur die anderen und wer war dieser Fremde, von dem er da spricht? Wenn es so ist, wie Gromdas gerade gesteht, wird das ein Beben auf der Insel auslösen, denn der gesamte Rat würde, wenn es wahr ist, abgesetzt werden, würde…Europa will es gar nicht zu Ende denken.
„Ich schwöre, dass ich die Wahrheit sage“, hört sich Gromdas zitternd sagen. Europa schweigt.