21 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 186

Zeus – schlecht gelaunt – im Kreuzfeuer der Kritik Athenas.

Das Urteil Europas auf Kretas ist kaum verkündet, da kann sich Göttervater Zeus oben im Olymp kaum mehr halten vor Wut, Zorn und Ratlosigkeit. Schnaubend läuft er im Wolkensalon auf und ab. „Was bildet die sich eigentlich ein? Mit einem Blitz könnte ich sie erledigen, wenn ich wollte, mit einem bloß!“ wettert er grummelnd vor sich in. „Was ist denn schon wieder los mit dir, Papa?“, fragt Athena genervt. Entsetzt bleibt Zeus stehen. Das hat ihm gerade noch gefehlt, jetzt in ein Kreuzfeuer mit seiner überklugen Tochter zu geraten. „Nichts, nichts!“ faucht er sie an, als hätte sie ihn beleidigt. „Ach ja?“, spottet sie, „wenn du schon bei ‚nichts‘ so herum zappelst, was für ein Theater wirst du dann erst aufführen, wenn ‚etwas‘ in der Luft läge?“ Diese spitze Zunge seiner Tochter treibt ihn noch in den Wahnsinn. Tief durchatmen, nur nicht ausrasten, flüstert er sich zu. „Jetzt sei mal nett zu deinem Vater, Athena, und erfinde keinen Verdacht, nur weil du so eine blühende Phantasie hast, ja?!“ „Ach ja, wie kommst du denn auf Verdacht? Sollte ich einen haben?“ Sie lässt einfach nicht locker. Zeus ist stolz auf seine Tochter: sie ist so ein kluges Mädchen! Gleichzeitig wirft Zeus noch einen kurzen Blick auf den Gerichtssaal im Palast des Minos von Kreta: Dass die Hohepriesterin Chandaraissa das Urteil noch ummodelt, setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Ich muss diesem Siegeszug der beiden Frauen ein gnadenloses Ende setzen. Große Göttin hin oder her, ich muss es einfach tun. Das bin ich meiner Ehre als Gottvater einfach schuldig. „Hast du plötzlich die Sprache verloren?“ holt ihn Athena aus seinen Ränkeplänen zurück ins Kreuzverhör. „Athena, bitte, ich brauche einfach etwas Ruhe. Lauter Probleme da unten sind zu lösen. Da ist es doch klug, nachzudenken, abzuwägen, gegen zu rechnen, gelassen zu bleiben. Das verstehst du doch, oder?“ „Ei, ei, ei , da hat der Papa aber große Geschütze aufgefahren! Fast könnte ich glauben, einen weisen Mann als Vater zu haben!“ „Musst gar nicht die ironische Tour fahren, Töchterchen, ich meine es total ernst damit!“ Gleichzeitig überrollt ihn in seinem Magen die nächste Wutwelle: Diese Europa hat in allem übertrieben, sie muss in die Schranken gewiesen werden. Dass ihm aber im selben Moment ein heißes Lustgefühl durch die Adern jagt, weil er an die Nacht nach der Entführung in Stiergestalt mit ihr in der Höhle auf Kreta denken muss, macht ihn nur noch rasender in seinem inneren Toben. Auf keinen Fall darf er zulassen, dass er denken muss, sie habe ihn erobert, besiegt, unterworfen…Bin ich verrückt? Was sind das denn für Bilder? Da wird oben und unten völlig auf den Kopf gestellt. „Was schnaubst du denn so heftig, Vater?“ holt ihn Athena aus seinem Selbstgespräch zurück ins Kreuzfeuer seiner Kopfgeburt. „Gut durchatmen, ist einfach gesund, meine liebe Tochter, besonders in meinem Alter.“ „Für mich hörte sich das aber eher wie Hecheln an, wie von Magenkrämpfen befeuertes Japsen eines Getriebenen.“ Da verschlägt es ihm den Atem. Sie hat es auf den Punkt gebracht, sie durchschaut ihn. Jetzt nur ja keine Miene verziehen, jetzt ganz ruhig bleiben: „Ich bin die Ruhe selbst, habe Olymp und Welt wie stets unter strengster Kontrolle. Alles im Griff. Ein Glas Wasser wäre jetzt genau richtig für mich.“ Athena kann sich ein Prusten und Lachen kaum verkneifen. Sie nickt und holt ihm ein Glas Wasser von der Bar, tröpfelt aber ein paar Tropfen Nektar mit hinein. „Hier, trink schön langsam, damit du dich nicht verschluckst..“ Zeus nimmt das Getränk, schaut ihr aber dabei nicht in die Augen. Diese Frauen! Europa und Athena, von Hera ganz zu schweigen. Er hat das Gefühl, umstellt zu sein von bevormundenden Wesen, die ihm doch eigentlich untergeordnet sein sollten. Am besten einen kleinen Spaziergang machen. Alleine. Fassung zurückgewinnen. „Ich geh dann mal auf Wolkenwanderung. Tschüss!“

20 Mai

Europa – Meditation Nr. 500

Der neue Dreisatz im Chaos-Tanz der europäischen Wirklichkeit.

Erster Satz:

Das Credo vom Individualismus „Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“ hat sich als schlimme Verlockung, als hohl und mörderisch erwiesen. Denn statt einer Befreiung des Ichs betrog sich der kluge Kopf in einem steilen Aufstieg zu einer noch nie da gewesenen Entfremdung von sich selbst, in dem er sich den scheinbaren Gesetzmäßigkeiten der Materie und des Marktes verschrieb, in dem er mehr und mehr zum Getriebenen und bloß noch Gebrauchten verkam, der das Mehr an Haben dickköpfig als ein Mehr an Sein sich selbst einzureden vermochte und gleichzeitig nicht nur der eigenen Tier-Natur, sondern auch der sie tragenden äußeren Natur so viel Gewalt antat, dass er die Verkümmerung seiner Seele genauso wie die Klima-Katastrophe und die Ressourcen-Ausbeutung als Weg zur Vollendung der „Aufklärung“ verbrämen musste. Die Kosten sind immens. Geld wurde so zur endgültigen neuen Religion, die zu zelebrieren er all seine Phantasie einsetzte. Das Bild vom goldenen Kalb aus dem alten Testament wird so zu einem Menetekel, das sich in diesen Tagen auf unheimliche Weise dermaßen vergrößert hat, dass die Selbstverwirklichungswünsche des einzelnen nur noch über die Schiene der Geldvermehrung funktioniert. Die Auswüchse werden überdeutlich in der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich: die Deals, die in der letzten Woche in Saudi-Arabien und den Emiraten ausgehandelt wurden, sind das letzte und verlogensten Beispiel dieser Irrfahrt des Individuums zu sich selbst: da ist nichts mehr übrig als Kälte, Gewalt, Lüge und Betrug.

Zweiter Satz:

Vielfalt ist die entschiedene Antwort auf diesen totalen Schiffbruch der völlig misslungenen Emanzipation des Individuums mittels cartesianischer Mittel. Die Europäer können sich aus der Sackgasse des amerikanischen Modells endlich selbst befreien: Sie müssen sich nur auf den Wert der Vielfalt europäischer Traditionen, Sprachen und Kulturen besinnen, die – wie in einem großen Konzert – eine so starke Melodie auf den Weg bringen kann, dass nicht nur nach innen selbstwirksame Kräfte freigesetzt werden, sondern auch nach außen eine Stärke sichtbar wird, die in der Vielfalt der Welt wie eine neue Einheit erscheinen kann. Sie wird dann in dieser globalen Krise zum beeindruckenden Vorbild für Hilfe durch Selbsthilfe – eben nicht nur auf dem eigenen Kontinent, sondern auch auf der ganzen Welt. Das bisherige westliche Modell wird über Nacht zu einem Auslaufmodell, weil die tönerne Botschaft in sich selbst zusammenfällt und an ihre Stelle die „Vereinten Völker Europas “ (VVE) die ihre setzen, die weder der Selbstausbeutung noch der Ausbeutung der Natur anheim fällt, sondern behutsam und nachhaltig an den Schäden sich abarbeiten wird, um gemeinsam mit ihren „followern“ den Kollaps des Planeten doch noch abzuwenden. Die Kräfte dieser Vielfalt müssen überhaupt erst zum Bewusstsein kommen – da haben die Medien ihre große neue Aufgabe – in der Bildung der nachwachsenden Generation muss das zum Kern-Curriculum in allen europäischen Ländern werden, damit die Flucht in die Welt der Pixelsucht obsolet wird. Es ist höchste Zeit, denn die Stunde der Wahrheit hat geschlagen.

Dritter Satz:

Den cartesianischen Sicherheitsversprechen durch Maß und Zahl werden dann die ernüchterten Individuen in Europa eine Haltung entgegen setzen, die sich bescheiden als neugierige Nomaden-Existenz versteht, die im Denken wie im Tun das „Unterwegs Sein“ auf seine Fahnen schreibt: die im Vorläufigen, Experimentellen, im Probelauf also, die Lebensdevise sieht: Wir – als aufrecht gehende Tiere mit einem zu Überspanntheit neigenden Gehirn – sind neugierig unterwegs zu neuen Versuchen, die weder der Gewalt, noch dem Selbstbetrug das Wort reden, sondern der Sterblichkeit bescheiden Tribut zu zollen bereit sind, um im jeweiligen Moment des eigenen Lebens alles daran zu setzen, mitzuhelfen, das gemeinsame Schicksal Europas doch noch zu meistern – eben nicht in Selbstüberheblichkeit und Größenwahn, sondern in Solidarität mit den Nachbarn, die man kennt und respektiert und von denen man weiß, dass sie für die eigene Rettung lebensnotwendig sind. So könnte Europa der neue Trendsetter werden. Weitsichtig.

14 Mai

Erzähl mir keine Geschichten! Nr. 8 – Leseprobe

Der Blick aus den Fenstern in den alten Park. Vogeltänzerei.

Diese beflügelte Leichtigkeit befiederter Tänzerinnen und Tänzer ist in ihrer Stille und Akrobatik Natur gewordene Schönheit, von der sie allerdings nichts wissen, genauso wenig wie von den herrlichen Melodien ihrer Lockrufe und Reviergesänge, die sie Tag für Tag der Welt verschwenderisch schenken. Nur wir Menschen umhüllen sie noch zusätzlich mit dem Etikett der Vergänglichkeit. Wie überflüssig, wie pharisäisch! Denn anders als in der lebensfrohen Vogelwelt verstecken wir nur allzu gerne in unseren eigenen schön geredeten Wortgirlanden die düsteren Momente unseres Tuns. Als zäher Nebel kommen sie aber immer wieder zurück in unsere Erinnerungsarbeit, manchmal sehr, sehr viel später. So wie die Geschichte um die polnischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, die auch im Rheinland unter wahrlich unwürdigen Bedingungen arbeiten mussten – die größten Anstrengungen galten dabei aber der Arbeit am Überleben. In Beuel genauso wie in Siegburg, um nur zwei der zahllosen miesen Nester nationalsozialistischer Unterdrückungsorte zu nennen.

Beuel: in der Zeitung dieser Tage ein gestelltes Foto adrett hergerichteter Polinnen, die in ihren Gesichtszügen die Kränkung und die Angst kaum verbergen können, die sie Tag und Nacht in ihrem Würgegriff halten. Jadwiga Pawlowska. Eine von vielen. Sie lebten dicht gedrängt in überfüllten Baracken. Jadwiga Pawlowska starb unter menschenunwürdigen Bedingungen. Tuberkulose, keine ärztliche Hilfe, sie wurde einfach weggesperrt, bis sie starb. Jadwiga Pawlowska. Ein Name unter vielen in Beuel. 1943 – 1945.

Siegburg: Illa (94) erzählt ihrem Sohn beiläufig, dass sie im Betrieb auch polnische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen gehabt hätten. Jeden Tag habe sie eine Suppe für sie gekocht. In welchen Baracken haben sie hausen müssen? Wer waren die Aufseher? Der Sohn versäumt, nachzufragen, die Mutter wechselt das Thema. Was wussten die Seilers von ihren Lebensbedingungen vor Ort, wie wurden sie im Betrieb behandelt? Gab es da auch eine Jadwiga, eine Malgorzata? Tuberkulose? Wo sind sie beerdigt? Was geschah nach den Tagen der Kapitulation am 8. Mai 1945? Wechselte nun die Angst die Seiten? Fürchtete man auf dem Stallberg die Rache der Gedemütigten?

Wie sagt doch Sting in seiner Autobiographie „Broken Music“: „Wir sind alle Trappistenfamilien, jeder gefangen in seinem eigenen Schweigen“. Das haben die Eltern in nachhaltigem Unterricht jeden Tag am Esstisch ihren Kindern beigebracht: zu schweigen. Jadwiga? Wir kennen keine Jadwiga. Was ist das überhaupt für ein komischer Name? Wo hast du das her? Hast du schon die Hände gewaschen? Ab! Aber dalli. So ging das. Und wir Kinder in unserer Angst waren brave Schülerinnen und Schüler im Fach Schweigen.

Später werden wir es unseren eigenen Kinder als Normalfall weiter vorleben. Und unter einem Berg von Werbespots und schriller Musik ist Jad-wiga dann höchstens noch ein hohler Klangkörper fast so wie Rot-China.

Jenseits solchen Schweigens bleibt aber die Stille im Park einfach nur wunderbar, der Lufttanz der Meisen und Amseln kostenlose Schönheit und der vielstimmige Gesang abends und morgens ein reiches Geschenk hochbegabter Sängerinnen und Sänger. Just for free.

Jadwiga – auch ein schöner Klang. Wenn auch mit einem sehr traurigen Unterton.

Małgorzata Chodakowska (* 9. Mai 1965 in Łódź, Polen) ist eine polnische Bildhauerin, die seit 1991 in Dresden lebt und arbeitet. Sie besitzt neben der polnischen seit 2018 auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Neben den sogenannten „Stammfrauen“ – überlebensgroßen Holzskulpturen, die im Stück aus Baumstämmen gehauen werden – gestaltet Chodakowska auch Brunnenfiguren sowie Preisskulpturen für Wettbewerbe. Besondere Aufmerksamkeit erhielt ihre Skulptur Trauerndes Mädchen am Tränenmeer, die seit 2010 in Dresden an die Bombardierung der Stadt 1945 erinnert.