12 Mai

Europa – Meditation # 499

„Wir sind und waren doch immer nur Freunde!“

Nach einem wirren Wechselbad der Gefühle und Botschaften, die den Europäern Tag für Tag zugemutet wurden – und nicht nur ihnen – , schleift bereits die Kraft der Gewohnheit selbst das Ungewöhnlichste wieder glatt: „dank“ eines neuen Kanzlers und „dank“ eines neuen Papstes, dem undramatischen Ende der Bundesligasaison und dem bevorstehenden Vatertag, den verlässlichen Hiobsbotschaften aus der Ukraine und Palästina, sind die Europäer wohl bereit, im neuen Alltag der Alten Welt der Neuen Welt Paroli zu bieten: auf dem schmalen Grat zwischen Skylla und Charybdis – zwischen Weltkrieg und Klima-Kollaps – entscheiden sich die Europäer mit dem Rücken an der Wand für ein völlig neues Kapitel ihres Selbstverständnisses und ihrer Rolle in der Welt:

Die verrottete Nabelschnur zum großen Bruder aus Übersee ist von diesem selbst mutwillig durchschnitten worden; so müssen die Europäer aus ihrem bequemen Wohlstandstaumel endlich aufstehen und auf eigenen Füßen wandeln – erwachsen werden eben. Es ist aber nur scheinbar ein großer Trennungsschmerz, war doch die Beziehung nie eine partnerschaftliche, sondern immer eine ökonomische und auch ideologische Abhängigkeit. Dass sie fast 80 Jahre funktionieren konnte, war in den ersten vierzig Jahren der Angst vor dem Over-Kill gezollt und in den letzten vierzig Jahren den Gesetzmäßigkeiten einer einseitig exportorientierten Volkswirtschaft.

Es musste also erst ein tobendes Rumpelstilzchen à la Trampel auf dem Parkett erscheinen, bevor die Europäer die scheinbaren Bequemlichkeiten einer „alten Freundschaft“ als das erkennen konnten, was sie ist: fast wie siamesische Zwillingen hatten sie sich aneinander gebunden: ein starker, großer und schwerer Zwilling mit einem kleinen, aber auch potenten Zwilling. Wer das Sagen hatte, war unausgesprochen offensichtlich: der schwere Knabe natürlich.

Nun ist es vorbei damit.

Die Verwirrung ist groß, denn der Ritt in die Selbständigkeit ist weder ein Selbstläufer, noch eine Selbstverständlichkeit. Die Europäer liebäugeln mit zwei Optionen (es bleibt allerdings nicht viel Zeit sich zu entscheiden, denn die großen „Player“ dieses stöhnenden Planeten rangeln schon um die besten Plätze): Rückkehr in die Sackgassen nationaler Prioritäten und Fremdenfeindlichkeit oder Aufbruch in ein kühnes Netzwerk verwandter Völker, die ihr Eigeninteresse am besten erfüllt sehen, wenn sie die Interessen der anderen als hilfreich und nötig verstehen lernen: faire Zusammenarbeit unter gleichen – „Wir verteidigen gemeinsam unseren Erdteil, wissen um seinen Wert gerade in seiner d i v e r s i t y und schätzen unsere Nachbarschaft als hohen Wert im eigenen Leben und Erleben.“ Doch das eigene Leben und Erleben ist den Europäern in den letzten 80 Jahren fast abhanden gekommen, so vorauseilend brav übernahmen sie nicht nur das neo-liberale Wirtschaftskonzept des großen Zwillings, sondern auch sein werbewirksam in Szene gesetztes Zivilisationsmuster: „the american way of life“. Allzu beflissen wurden in all den Jahren die eigenen historisch gewachsenen sozialen Muster preisgegeben, Traditionen, Besonderheiten und regionale Folklore hintan gestellt, um sich von Konsumrausch und dem Mantra: „Verbrauche einfach mehr als du brauchst!“ über den Markt treiben zu lassen. Bis in die Sprachhülsen ließ man sich verformen, neu aufstellen und über den Tisch ziehen. Da war allerdings kein Freund am Werk, sondern ein erfolgsorientierter Business-man, der eiskalt eins und eins zu addieren wusste.

So ist es ein unsanftes Erwachen, das nach Kater schmeckt. Kopfschmerzen bereitet noch und noch.

Das Tempo diktiert die Klimakrise, das neue Konzept für die Europäer muss schnell auf die Beine kommen, sonst kommen wir aus dem Regen bloß in die Traufe.