Europa – Meditation Nr. 505

Irrfahrt zwischen Skylla und Charybdis.
Ein irres Kaleidoskop von Farben und Formen jagt die Hirnaktivität vor sich her: um diesem schwindelerregenden Treiben so etwas wie System unterstellen zu können, werden Pflöcke im Nowhere eingerammt. Das so erfundene „Areal“ wird dann mit Zahlen und Begriffen gepflastert – versiegelt ist das Wort der Stunde – und als übergeordnete Begriffe melden sich Heimat, nein, noch besser, Nation vorlaut zu Wort. Das Gewusel der unterschiedlichen Wesen – oft von weither gewandert – soll einem mächtigen Überwort gehorchen: vaterländisches Terrain. Dem müssen sich die Frauen unterordnen, gottgewollt gewissermaßen und für immer. Was für ein kleinkariertes Muster hat sich da wie ein Krebsgeschwür in den Männerhirnen eingenistet! Ohne Gewalt wäre es längst wieder in der Altpapiertonne verrottet. Da aber – wie in einem Schneeballsystem – inzwischen fast alle diesen Spielregeln den Lemmingen gleich hirnlos folgen, sind auch die gewaltigen Bilder, die teilnahmslose Medien Tag und Nacht bereitstellen, scheinbar wie Naturkatastrophen im Gehirn gespeichert: Raketen, Drohnen, Jets – bemannt oder unbemannt zerstören sie alles, was ihnen im Weg steht. Sachen wie Menschen wie die Erdkruste. Gleichzeitig – ein faszinierendes Kaleidoskop muss das einfach bringen – jagen Bilder von Sport-Events, Flugzeugabstürzen, Erdrutschen, Flutwellen, Militärparaden und Vulkanausbrüchen die Neuronen synaptisch vor sich her, ruhelos, schlaflos, endlos.
Aber da wir nichts anderes sind als nervöse Nomaden verschiedener Stämme, die zwischen Oasen hin und her irren – immer in Furcht vor eingebildeten Monstern und monströsen Naturkatastrophen und heimtückischen Überfällen – verordnen uns selbst eine übergeordnete Zugehörigkeit, der sich alle unterordnen müssen. Ein wüstes Spiel in den Wüsten eintöniger Lebendigkeit. Und angesichts der Kürze der Verweildauer erzählen wir uns mit Hilfe der Sprache, die für alles und jeden einen Begriff bereitstellt, die alten Geschichten wieder und wieder, bis sie so verwandelt sind, dass sie wie noch nie dagewesene anmuten.
Zweifler gibt es aber dennoch. Denen muss unnachgiebig im noch schnelleren Erzählen das Wort abgeschnitten werden. Diese Zensoren fühlen sich als Fundament des Kaleidoskops, deshalb werden sie ja auch von den Zweiflern Fundamentalisten genannt. Es gibt sie allerorten: In Persien genauso wie in Palästina, in Polen wie in Pommern. (Ähnliche Namen lassen sich auch auf den anderen Kontinenten einander gegenüberstellen) Und wenn eine Zeitung dieser Tage mit einer großen Überschrift punkten will: „Krieg in Nahost“, dann bleibt einfach nicht mehr die Zeit festzustellen, dass es den Krieg im Nahen Osten mindestens schon seit 1914 gibt. Also wahrlich nichts Neues.
Auch der Begriff der Nationen wurde allzu lange schon von ähnlichen Zensoren gehütet und gewartet auf dem Kontinent Europa, obwohl große Wanderungen vieler Stämme seit dem Mittelalter die wunderbaren Landschaften bunt durchmischt haben, so dass die unterstellte gemeinsame genetische Herkunft ein frommes Ammenmärchen war und ist.
Doch die Sprachspiele gehen unverdrossen weiter. Man muss nur lang genug reden, bis die, die gegebenenfalls widersprechen würden, müde sind und aufgeben. Und der Sound der Medien ist ja sowieso uneinholbar und nicht mehr zu stoppen.
Die Vielfalt der Sprachen in Europa hat aber einen gemeinsamen Nenner, um einen Begriff der Mathematik zu bemühen: nicht nur liegen ihr als fernes Echo die bereits erwähnten Wanderungen vieler Stämme zugrunde, nein, sie haben auch als Motiv immer die Flucht mit im Gepäck. Wie Europa, die weitsichtige, selbst ja auch: nach der gewaltsamen Entführungen blieb ihr nur die Flucht. Ein Gemeinschaft schaffendes Merkmal also.
Im Kaleidoskop „Europa“ glänzen so viele Sprachfarben miteinander um die Wette, dass nur Stolz ob solcher Fülle aufkommen kann, die jedem Fundamentalisten das Wasser abgräbt und die vereinten Stämme Europas zu einem unüberwindbaren Bollwerk macht.