16 Juni

Europa – Meditation Nr. 505

Irrfahrt zwischen Skylla und Charybdis.

Ein irres Kaleidoskop von Farben und Formen jagt die Hirnaktivität vor sich her: um diesem schwindelerregenden Treiben so etwas wie System unterstellen zu können, werden Pflöcke im Nowhere eingerammt. Das so erfundene „Areal“ wird dann mit Zahlen und Begriffen gepflastert – versiegelt ist das Wort der Stunde – und als übergeordnete Begriffe melden sich Heimat, nein, noch besser, Nation vorlaut zu Wort. Das Gewusel der unterschiedlichen Wesen – oft von weither gewandert – soll einem mächtigen Überwort gehorchen: vaterländisches Terrain. Dem müssen sich die Frauen unterordnen, gottgewollt gewissermaßen und für immer. Was für ein kleinkariertes Muster hat sich da wie ein Krebsgeschwür in den Männerhirnen eingenistet! Ohne Gewalt wäre es längst wieder in der Altpapiertonne verrottet. Da aber – wie in einem Schneeballsystem – inzwischen fast alle diesen Spielregeln den Lemmingen gleich hirnlos folgen, sind auch die gewaltigen Bilder, die teilnahmslose Medien Tag und Nacht bereitstellen, scheinbar wie Naturkatastrophen im Gehirn gespeichert: Raketen, Drohnen, Jets – bemannt oder unbemannt zerstören sie alles, was ihnen im Weg steht. Sachen wie Menschen wie die Erdkruste. Gleichzeitig – ein faszinierendes Kaleidoskop muss das einfach bringen – jagen Bilder von Sport-Events, Flugzeugabstürzen, Erdrutschen, Flutwellen, Militärparaden und Vulkanausbrüchen die Neuronen synaptisch vor sich her, ruhelos, schlaflos, endlos.

Aber da wir nichts anderes sind als nervöse Nomaden verschiedener Stämme, die zwischen Oasen hin und her irren – immer in Furcht vor eingebildeten Monstern und monströsen Naturkatastrophen und heimtückischen Überfällen – verordnen uns selbst eine übergeordnete Zugehörigkeit, der sich alle unterordnen müssen. Ein wüstes Spiel in den Wüsten eintöniger Lebendigkeit. Und angesichts der Kürze der Verweildauer erzählen wir uns mit Hilfe der Sprache, die für alles und jeden einen Begriff bereitstellt, die alten Geschichten wieder und wieder, bis sie so verwandelt sind, dass sie wie noch nie dagewesene anmuten.

Zweifler gibt es aber dennoch. Denen muss unnachgiebig im noch schnelleren Erzählen das Wort abgeschnitten werden. Diese Zensoren fühlen sich als Fundament des Kaleidoskops, deshalb werden sie ja auch von den Zweiflern Fundamentalisten genannt. Es gibt sie allerorten: In Persien genauso wie in Palästina, in Polen wie in Pommern. (Ähnliche Namen lassen sich auch auf den anderen Kontinenten einander gegenüberstellen) Und wenn eine Zeitung dieser Tage mit einer großen Überschrift punkten will: „Krieg in Nahost“, dann bleibt einfach nicht mehr die Zeit festzustellen, dass es den Krieg im Nahen Osten mindestens schon seit 1914 gibt. Also wahrlich nichts Neues.

Auch der Begriff der Nationen wurde allzu lange schon von ähnlichen Zensoren gehütet und gewartet auf dem Kontinent Europa, obwohl große Wanderungen vieler Stämme seit dem Mittelalter die wunderbaren Landschaften bunt durchmischt haben, so dass die unterstellte gemeinsame genetische Herkunft ein frommes Ammenmärchen war und ist.

Doch die Sprachspiele gehen unverdrossen weiter. Man muss nur lang genug reden, bis die, die gegebenenfalls widersprechen würden, müde sind und aufgeben. Und der Sound der Medien ist ja sowieso uneinholbar und nicht mehr zu stoppen.

Die Vielfalt der Sprachen in Europa hat aber einen gemeinsamen Nenner, um einen Begriff der Mathematik zu bemühen: nicht nur liegen ihr als fernes Echo die bereits erwähnten Wanderungen vieler Stämme zugrunde, nein, sie haben auch als Motiv immer die Flucht mit im Gepäck. Wie Europa, die weitsichtige, selbst ja auch: nach der gewaltsamen Entführungen blieb ihr nur die Flucht. Ein Gemeinschaft schaffendes Merkmal also.

Im Kaleidoskop „Europa“ glänzen so viele Sprachfarben miteinander um die Wette, dass nur Stolz ob solcher Fülle aufkommen kann, die jedem Fundamentalisten das Wasser abgräbt und die vereinten Stämme Europas zu einem unüberwindbaren Bollwerk macht.

06 Juni

Europa – Meditation Nr. 504

Rumpelstilzchen und Kasperle klatschen sich platschend ab.

Als wären die Europäer kurz ins Märchenland der Gebrüder Grimm katapultiert worden: Da trifft das tapfere Schneiderlein auf den schlafenden Riesen und mit Bauernschläue wird der eine zu Fall gebracht, während der andere von einem Sieg zum anderen eilt. Und die Moral von der Geschicht’? Wenn da, wo eigentlich der gesunde Menschenverstand das Sagen haben sollte, Poltergeister ihre Feste feiern dürfen, darf es niemanden wundern, wenn am Ende beide sang- und klanglos untergehen.Wenn Fundamentalisten à la Pilgerväter in die neue Welt segeln, um dort ein neues Jerusalem zu gründen, darf es niemanden wundern, dass bald dort nur noch zwei Götter das Sagen haben: Das Geld und ein unbarmherzig strafende Gott.

Die Europäer haben lange gebraucht, um diese unheilige Allianz zu durchschauen. Da musste erst ein Rumpelstilzchen wütend auf der Stelle tretend und ein Hanswurst von Kind gebliebenem Draufgänger samt Kettensäge auf großer Bühne seinen Veitstanz inszenierend gemeinsam Lügen verbreiten, bevor sie kurzerhand die lächerlichen Masken fallen ließen, damit man die Fratzen dahinter ungeschminkt besichtigen konnte:

Europäisches Demokratie-Verständnis, das sich in Einklang sah mit amerikanischem Vorverständnis, musste zur Kenntnis nehmen, dass nicht nur ein gewisser Goebbels ein gelehriger Schüler in Amerika war, wie man mit Werbung die Leute übers Ohr hauen muss, um Gewinn zu machen, sondern auch die Verlierer des zweiten Weltkrieges, die schuldbewusst und in vorauseilendem Gehorsam eben solche Muster sich aufschwatzen ließen.

Jetzt gehen ihnen die Augen auf: der in Europa einst erfundene Nationalismus echot nun aus Übersee in seiner bizarresten Weise, gekoppelt mit einer wüsten Gier nach fossilen Brennstoffen -als gäbe es keine Öko-Krise – von den Bereicherungsphantasien eines techno-pseudo-visionären Futurismus der siamesischen Zwillinge Musk und Thiel assistiert, denen Deregulierung und Neo-Liberalismus das neue Mantra ist.

Dass sich Musk und Trump nun öffentlich nicht entblöden wie kleine Jungs, die alleine mit der elektrischen Eisenbahn spielen wollen, auf einander einzuschlagen, sollte nun auch den letzten Europäern, die bisher das amerikanische Modell für vorbildlich hielten, klar gemacht haben: Wir Europäer müssen endlich unser Geschick in die eigenen Hände nehmen. Eine einmalige Chance, die ökonoomische, philosophische und soziale Kraft des alten Kontinents phantasievoll und wild entschlossen zu bündeln und wirkungsvoll gegen hegemoniale Gelüste – von wo auch immer – zusammenzustehen.

03 Juni

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 187

Das Ende der Regentschaft von Europa auf Kreta. (Teil I)

Beim nächsten Vollmond ist es so weit: Europas Söhne, ihre Zwillinge, sollen sich nun endlich den Thron des Minos von Kreta teilen. Sie hatten geduldig gewartet, wenn auch nicht immer in Gelassenheit, denn viele Entscheidungen ihrer Mutter gefielen ihnen ganz und gar nicht. Sadamanthys und Parsephon hatten vor allem die Strafe für die alten Ratsherren nicht verstanden: Würden sie nicht versuchen, aus ihrem Kerker heraus Gefolgsleute für eine Rückkehr in die Freiheit zu gewinnen? Würden sie nicht versuchen, den Beginn ihrer Herrschaft zu unterlaufen – mit Attentaten, mit Gerüchten? Aber ihre Mutter hatte immer nur abgewunken: „Die große Göttin ist auf unserer Seite. Seid also unbesorgt!“ Das war ihre immer gleiche Antwort auf ihre Zweifel.

Schon weit vor Sonnenaufgang beginnen die Vögel eifrig mit ihrem Gesang. Laut und prächtig. Europa hatte schon ihre Gebete im Tempel der großen Göttin verrichtet, hatte mit ihrer Freundin, der Hohepriesterin Chandaraissa, noch einmal die Feierstunde vorbesprochen. Jetzt wirft sie einen letzten prüfenden Blick in den Thronsaal. Es ist alles so, wie sie es angeordnet hatte. Nur der Weihrauchduft fehlt noch.

Mit schnellen Schritten bewegt sie sich durch die stillen und sie dämmrig einhüllenden Gänge. Dann klopft sie kräftig mit dem bronzenen Minotauruskopf an die Doppeltür zu den Gemächern ihrer Söhne. Es dauert eine Weile, bis ihr geöffnet wird. Die beiden Diener verneigen sich erschrocken vor ihr: „Herrin, verzeiht, wir haben dich noch nicht erwartet!“ „Schon gut, schon gut! Sind die beiden noch nicht auf?“ fragt sie beim Eintreten. Wie können die beiden noch schlafen, geht es ihr durch den Kopf. Jetzt, wo ihr großer Tag anbricht! „Sadamanthys, Parsephon!“ Ihre helle Stimme füllt hallend den Raum. „Steht auf, sonst verpasst ihr noch eure eigene Inthronisation!“ Lachend klatscht sie in die Hände, reißt ihnen die Felldecken vom Lager und staunt, wie groß und kräftig sie doch geworden sind, ihre beiden Söhne, ihre Zwillinge. „He, was machst du da, ich friere!“ meldet sich nörgelnd Parsephon zu Wort. „Wir haben doch noch Zeit, Mutter, bitte!“ nuschelt Sadamanthys. „Nein, habt ihr nicht. Im Thronsaal werden schon bald die neuen Ratsherren und all unsere Ehrengäste eintreffen. Also los, rein in die festlichen Gewänder! Oder wollt ihr vom Volk als Schlafmützen verlacht werden?“

Das sitzt. Wie vom Blitz getroffen springen sie beide auf, steigen in die Wannen mit dem warmen Wasser, lassen sich einseifen, abtrocknen und einkleiden. Europa ist längst wieder unterwegs, um letzte Anweisungen für die Feierlichkeiten loszuwerden. Im gesamten Palast herrscht emsiges Treiben, Laufen, Tragen.

Jetzt schleichen sich die ersten frischen Sonnenstrahlen durch die Fenster, auf dem Dach stehen bereits die Posaunenbläser, um auch den Menschen unter im Hafen den Beginn der Feier anzukündigen.

Nur oben im Olymp – da ist jemand sehr schlechter Laune, ähnlich den alten Ratsherren unten im weitläufigen Kerker der Wächter und Pfleger des Minotaurus. Zeus zürnt Europa wie ein kleiner Junge, dem man vom Spiel ausgeschlossen hat. Und sinnt weiter auf Rache.