Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 69
Archaikos träumt einen kühnen Traum
Sardonios, der Herr der Listen und Namen, kommt gerade schnaufend von seinem Frühspaziergang in den Palast zurück. Die Wächter schrecken auf: Wo kommt der denn her? Hä? Zitternd beugen sie ihre Häupter, nur nichts falsch machen, nur nicht auffallen!
Drinnen ist es angenehm kühl und still. Manchmal fliegt eine Schwalbe durch die Säulengänge oder waren es doch noch Fledermäuse? Sardonios hat keine Zeit für solche Beobachtungen. Ihm ist insgeheim angst und bange. Was hat der Minos von Kreta vor? Steht mein Sturz bevor? Sind die alten Räte noch auf meiner Seite? Liege ich richtig, die neue Flamme des Minos aus dem Weg räumen zu lassen? Jetzt ist es sowieso zu spät, denn die beiden dämlichen Helfer sind ja schon unterwegs. Schnell noch die Frühansprache des Minos mitnehmen, dann nichts wie hin zur Höhle, um die Einzelheiten für den Anschlag zu verabreden, denkt Sardonios, als man ihm die schwere Flügeltür zum Besprechungssaal öffnet.
Währenddessen stürzen kühne Traumbilder dem Minos durch den Kopf. Kurz vor dem Aufwachen überfällt ihn ein Taumel an Glücksgefühlen, wohligem Lustgestöhn und jauchzendem Kindergeschrei. Und an seiner Seite: Europa. Lächelnd, groß und so begehrenswert. Das Klopfen an seiner Schlafraumtür reißt ihn aus diesem beglückenden Rausch. Und weg sind die Bilder.
„Herr und Minos!“ flüstert Brodostys, sein treuer Diener, beim Eintreten, „Sardonios wartet schon ungeduldig auf die Anweisungen für den Tag. Soll ich ihn wieder wegschicken?“
Archaikos räuspert sich schlecht gelaunt, er will Sardonios mit langem Warten dafür bestrafen, dass er selbst aus diesem wunderbaren Traum gerissen wurde.
„Nein, nein! Lass ihn nur warten. Ich werde kommen.“
Stöhnend wälzt sich der Minos aus den noch warmen Fellen, richtet sich auf, hört genüsslich dem Geschrei der Elstern zu, die im leeren Innenhof so tun, als gehöre der Palast ihnen allein, und steigt in das dampfende Wasser seines riesigen Waschtrogs, der natürlich schon längst lautlos gefüllt worden war. Brodostys, der Gute, trocknet ihn gründlich ab und reicht ihm seine Untergewänder. Archaikos nimmt sich viel Zeit. Er grinst, denn er kann sich gut vorstellen, wie jetzt Sardonios auf ihn warten muss, wütend. Dann geht der Minos gemächlich zum Fenster, schaut über den tiefer gelegenen Innenhof hinweg Richtung Berge und denkt sich noch einmal in seine Traumbilder hinein: Europa soll es also sein, mit ihr wird er diese Kinder haben, die er da ausgelassen schreien hörte. Er atmet tief die frische Morgenluft ein. Sein Reich, Kreta, wird also glücklichen Tagen entgegen sehen. Eine fremde Frau wird alles verändern.