Europa – Meditation # 138
Die schön gewachsene Einheit einer wunderbaren Vielheit
Europa ist nichts anderes als das, was auch an zahllosen anderen Plätzen dieses kleinen Planeten seit langem schon geschieht: Verwandte Menschen, verwandt im Geiste auch, die sich immer wieder die gleichen Geschichten über ihre Vorfahren erzählen, die Bilder dazu erfinden und weiter geben, die im Gespräch mit der mächtigen Natur viel schon gelernt haben, aber doch immer wissen, dass s i e die Herrin ist und die Erdlinge nur die Gäste. Die oft auch mit Gewalt gegen Fremde oder scheinbar nicht vertrauenswürdige Nachbarn ankämpfen, als wäre nicht Platz genug für alle da und auch für alle Deutungen des Lebens und des Sterbens nicht.
Doch immer wieder kommen sie zurück auf den Boden der einfachen Botschaften von Glück und Unglück. Da ist keine Sicherheit und auch kein Königsweg, da sind nur schmale oder breite Pfade und phantasievolle Geschichten über die scheinbar richtigen und falschen Wege. Und immer wieder werden sie überrascht von neuen Deutungen, von alten Katastrophen, die einfach wieder auftauchen, als wäre das Vergangene auch vergangen und die alten Wahrheiten unüberholbar.
Die Zeitgenossen halten ihr Narrativ für richtig – schließlich leben sie ja danach – ihre Vorgänger hatten es eben nur zu vorläufigen Gewissheiten gebracht. Und diejenigen, die auf eine ganz neue Zukunft schwören, werden verlacht, weil sie sie nicht konkret benennen können, sondern nur im Vagen schwelgen. Und wer will da schon mitkommen?
So erfanden die schlauen Erdlinge griffige Begriffe für das Vergangene, bastelten feste Schubladen dafür, in die sie das wortreich Verpackte zwängten. Es kann sich ja sowieso nicht wehren, die Wortgeber sind immer die Gegenwärtigen, die nach hinten wie nach vorn die Zeiten ordentlich im eigenen Bild vertauen, damit alles schön zusammengezurrt verharrt.
Am meisten hilft ihnen aber die eigene Vergesslichkeit.
Die vor siebzig Jahren Geborenen kannten als Kinder und junge Menschen nichts anderes als den sogenannten Ost-West-Konflikt, den Kalten Krieg. Wie in Stein gemeißelt waren Zeit und Orte vermessen. Dann war es plötzlich alles nicht mehr wahr. Ein neues Weltbild wird flugs erfunden. So blieb es einem auch erspart, über die eigenen Irrtümer nachzudenken. Wie schön. Unser Gedächtnis sagte leise danke. Dann ist die Rede weltweit von der globalisierten Welt, ein sehr verführerischer Terminus Technikus, denn er soll helfen, die Vielheit der Völker, Bilder, Religionen alle in ein kleines Dorf zu holen, für jeden jederzeit betretbar, verstehbar, weil scheinbar verfügbar.
Dabei wäre es doch viel einfacher, die schön gewachsene Vielheit landauf, landab das sein zu lassen, was sie ist: Vielheit, grenzenlose, jeweils für ein kurzes Leben erlebbar. Wunderbar. Befremdlich bleibt sie sowieso.