Europa – Mythos # 81
Wie Woltónos die Flüchtlinge empfängt
Seine Tiere hatten eine unruhige Nacht. Doch es war weder Vollmond, noch hatte er schlecht geträumt. So schaut Woltónos jetzt etwas ratlos in den strahlenden Morgen. Er sitzt wie immer und jeden Morgen auf seinem Lieblingsstein und schaut über seine große Schafherde hin. Oben – wie immer – ziehen die zwei Seeadler ihre lautlosen Bahnen – bald werden seine beiden Söhne ihm Brot und Käse bringen und Milch. Ein Tag wie jeder andere. Fast. Wenn da nicht die zittrigen Beine seiner Tiere wären. Droht Gefahr? Was war los mit ihnen in dieser Nacht? Oder spüren auch sie seinen Unwillen mit seiner Rolle hier im Westen der Insel? Er muss über sich selber lachen: Als wenn diese dummen Tiere mehr könnten als nur fressen, trinken, sich gegenseitig ärgern und sich fortpflanzen! Machen wir Menschen es nicht genauso? Woltónos nickt breit grinsend. Ihn ärgert es immer noch, dass dieser Sardonios, der sich hochtrabend der Herr der Namen und Listen nennt, ihn vor Jahren beim Minos verpfiffen hat. Vielleicht wäre sonst er jetzt die rechte Hand des Minos oder zumindest sein Mundschenk oder Anführer der Palastwache.
Da holen ihn zwei Figuren aus seinen dumpfen Überlegungen. Wer könnte das sein, so früh am Morgen, hier? Dann erkennt er sie: Nemetos und sein Kumpel, dieser kurzhirnige Thórtys. Mit der linken zerdrückt er zwischen Daumen und Mittelfinger ein paar Thymianblättchen, holt mit einem starken Atemzug den frischen Duft in seine Nase und mit der rechten umfasst er kraftvoll seinen Weidestab. Die kommen mir gerade recht, denkt er grinsend. Nemetos winkt ihm von weitem zu. Er hat ihn erkannt. Im Näher Kommen ruft er freudig:
„Woltónos, deine Herde ist ja mächtig gewachsen! Da staun ich aber!“
Woltónos stutzt. Was ist das denn für eine Begrüßung? Was will der denn wirklich? Was ich will, das weiß ich jetzt. Seine Schafe laufen verängstigt davon. Woltónos pfeift sie gleich wieder zurück, winkt den beiden gönnerisch entgegen, erhebt sich umständlich und hört sich dann Sätze sagen, von denen er bis jetzt selber noch nichts wusste:
„Die Götter schicken dich, Nemetos, da bin ich mir ganz sicher. Ich habe diese Nacht davon geträumt.“
Jetzt umarmen sich die Männer erst einmal kräftig, dann fragt Nemetos seinen Onkel:
„Geträumt? Du hast geträumt?“ Woltónos nickt. Nemetos und Thórtys schauen sich irritiert an. Man setzt sich. Da kommen auch seine beiden Söhne dazu.
„Vater, Mutter lässt ausrichten, dass der Käse alle ist. Du sollst in die Käserei kommen. Wir beide sollen so lange auf die Schafe aufpassen.“
Die drei Männer lachen laut, schlagen sich die Hände auf die Schenkel, fallen über das Brot, den Käse und die Milch her, als hätten sie seit Tagen nichts Essbares mehr gehabt, während die beiden Jungen gierig zuschauen. Doch ihr Vater schickt sie zu den Tieren.
„Los, geht da rüber, wir hier haben Wichtiges zu besprechen!“