Europa – Mythos # 86
Das peinliche Verhör des Sardonios.
Der Angeklagte – gefesselt an Armen und Beinen – muss dem Minos von Kreta Rede und Antwort stehen. Der zweitmächtigste Mann im großen Palast zittert. Der Angstschweiß steht ihm auf der Stirn. Archaikos sieht es mit Wohlgefallen. Der Rat der Alten, die Wachen, aber auch Chandaraissa, die Hohepriesterin, sind völlig ratlos. Keiner weiß, worum es geht. Aber es muss um viel gehen, wenn Sardonios vor Archaikos in Fesseln steht. Nur das störende Flattern der drei Raben oben am schmalen Fenster der hohen Halle scheint wie ein krächzendes Raunen wortlos zu erzählen, um was es geht: Verrat, Bestechung, Machtmissbrauch. Jetzt räuspert sich der Minos vernehmlich und beginnt seine peinliche Befragung:
„Sardonios! Schwöre bei der großen Göttin, dass du die Wahrheit sagen wirst!“
Sardonios schluckt. Er atmet tief ein und aus. Mehrmals. Dann sagt er leise:
„Ich schwöre bei der großen Göttin!“
Archaikos nickt und wirft einen zufriedenen Blick zu Chandaraissa und Europa, die das Verfahren ja mit ihrem Verdacht ins Rollen gebracht hat. Dann gibt er dem jungen Schreiber ein Zeichen: Wehe, du lässt auch nur ein Wort aus, dann…
Zeus zischt gerade oben seinen beiden Brüdern zu:
„Wenn ich bis vier zähle, stürzen wir uns gemeinsam nach unten, kreischen wild los und fliegen um diesen dämlichen Minos zweimal herum. Dann wieder steil nach oben und raus. Klar?“
Poseidon und Hades – als schwarze Raben sehen sie längst nicht so mächtig aus – schauen sich aus ihren kleinen schwarzen Augen ratlos an. Nicken aber brav und schütteln gleichzeitig ihre Köpfchen.
„Klar!“ krächzen sie grimmig zurück, „klar!“
Unten beginnt nun die Befragung:
„Gehören zu deinen Leuten zwei Spitzel mit Namen Németos und Thórtys?“
Sardonios zuckt zusammen, als er die beiden Namen aus dem Mund des Minos hört. Woher weiß er das? Anstatt zu antworten, nickt er nur kurz.
„Hast du die Sprache verloren, hä? Ja oder nein? Was nun?“
„Ja, sie sind meine Leute.“
Archaikos wirft kurz einen Blick zu Europa, als wollte er sagen: Siehst du, meine Liebe, dein Verdacht ist berechtigt.
Die Alten vom Rat stecken flüsternd die Köpfe zusammen. Ihnen schwant Schlimmes.
„Gut. Hattest du die beiden gestern zum Tempel der großen Göttin geschickt, bewaffnet?“
Da halten alle den Atem an: Bewaffnet im Tempel der großen Göttin? Sardonios, der Herr der Namen und Zahlen, der Sicherheit und der Hofhaltung weiß, wenn er jetzt ja sagt, ist seine Zeit abgelaufen. Gleichzeitig fragt er sich, woher der Minos das denn überhaupt wissen kann.
Zeus zischt seine Losung: „Eins, zwei, drei, vier! Los!“