Europa – Neuer Mythos # 87
Das göttliche Urteil
Es ist leichenstill im Saal. Alle hängen an den Lippen des Angeklagten. Sardonios, der Herr der Namen und Zahlen, der Sicherheit und der Hofhaltung, atmet tief durch die Nase ein. Der Minos von Kreta starrt ihn böse an. Nun mach endlich, scheint seine Miene zu schreien. Auch er hält den Atem an. Seine Hände umfassen energisch die Anklageschrift. Zerdrückt raschelt sie zwischen seinen weiß glänzenden Fingerknochen. Da fährt ein anschwellender Luftzug durch die hohe Halle: Drei große, große Raben stürzen sich gerade von oben in die Tiefe. Erschrecktes Zucken der Zuhörer, als jetzt die drei düsteren Vögel auch noch zu kreischen beginnen. In einem furchtlosen Tiefflug umkreisen sie zweimal den Minos, dann wieder tonlos, aber heftig flatternd nach oben. Und weg.
Was war das? Furcht fährt den Menschen durch die erstarrten Glieder. Den meisten der alten Ratsherren gehen ähnliche Gedanken blitzartig durch den Kopf: Klar, das ist ein eindeutiges Zeichen der alten Götter. Sie missbilligen, was Archaikos gerade inszeniert. Klar. Insgeheim sehen sie bereits Sardonios als den neuen Minos. Dabei nicken sie sich unmerklich zu. Die Hohepriesterin und Europa erinnern sich daran, dass auch im Tempel neulich drei Raben ein störendes Theater veranstalteten. Auch sie nicken sich zu: Sie schmunzeln, sie ahnen, wer die Störenfriede wohl sind. Sardonios, der gerade die entscheidende Frage beantworten wollte, ist erleichtert. Die Verwirrung im Saal nutzt er für eine lange Pause. Vielleicht sollte er doch alles leugnen. Nur Archaikos, der Minos von Kreta, deutet diese befremdliche Flugszene selbstverständlich für sich: Die große Göttin schickt mir eine klare Botschaft. Ich bin auf dem richtigen Weg. Sardonios muss weg. Danke, Göttin, danke. Er sendet noch ein Stoßgebet hinterher. Danke.
„Nun, wir warten auf deine Antwort, Sardonios“, sagt Archaikos bedrohlich leise in die aufgeregte Stimmung hinein. Dabei schaut er schmunzelnd in die Runde, um vor allem dem Rat der Alten deutlich zu machen: Haltet euch zurück, der Minos steht in vollem Saft.
„Die beiden waren in meinem Auftrag unterwegs, ja“, antwortet Sardonios mit gebrochener Stimme. Er weiß, was dieser Satz für Folgen haben wird. Aber er will niemandem in der hohen Halle die Genugtuung gönnen, ihn schwach, ängstlich, feige zu sehen. Niemandem. Dieser fremden Frau, Europa, die ja an allem schuld ist, am wenigsten; ihr schickt er einen verächtlichen Blick hinüber.
„Und waren sie bewaffnet?“ legt Archaikos noch einmal nach.
„Ja, sie waren bewaffnet, sie sollten diese Frau“ – dabei zeigt er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Europa – „aus dem Weg räumen, weil sie dich verzaubert hat, diese Giftmischerin!“
Entsetztes Raunen füllt den Raum, alle Blicke sind auf Europa gerichtet. Archaikos – trotz seiner Siegerlaune – wird leichenblass im Gesicht. Da meldet sich ungefragt Chandaraissa, die Hohepriesterin zu Wort.