Europa – Meditation # 178
Die Gnade unseres Kurzzeitgedächtnisses.
Eine kleine Empörungswelle nach der anderen und schon wieder verebbt. Die Redaktionen der Medien hecheln den Themen hinterher, um ja immer eben nicht nur aktuell, sondern auch kritisch und unabhängig zu erscheinen. Und dann die Bilder dazu und die Karikaturen! Auch sie müssen möglichst schön bearbeitet, ein Eye-Catch und originell sein. Das hohe Tempo bestimmt, was zur Sprache kommt: Epstein, Weinstein, zum Glück auch noch ein Royal als Sahnehäubchen, Überschwemmungen, Erdbeben, Vulkanausbrüche. Twittergewitter gratis. Dann das Schreckgespenst einer Pandämie, hui! Unersättliche Bereicherungsorgien entlarven, und Europa wird mehr und mehr zum Zuschauer – weltweit. Andere Macher haben die „Dinge“ in die Hand genommen. Uiguren, Rohingyas, Palästinenser, Erdgaspipelines, Plastik, Afghanen, Eisberge: das globale Unterhaltungsprogramm sorgt ordentlich für Abwechslung. Und die Geldgeber halten sich weiter vornehm im Hintergrund. Lediglich der Vektor an der Börse kann da etwas erzählen, was gerade gelaufen ist oder demnächst laufen soll. Spekulieren will gelernt sein, klar. Gewinne um jeden Preis, versteht sich. Und die Kollateralschäden dürfen dann wieder medienwirksam inszeniert werden. Dem Zuschauer läuft es eiskalt über den Rücken herab.
Da das aber Tag für Tag viel zu schnell geht und viel zu viel ist, hilft uns unser Kurzzeitgedächtnis freundlich beim schnellen Vergessen. Wie sollte man das denn auch alles speichern? Gleichzeitig nehmen – Cum-cum-Geschäfte sind bereits Schnee von vorgestern – aber das Tempo und die Datenmengen weiter zu, während unser Gehirn beim geistigen Abarbeiten dagegen seine Schlagzahl nicht erhöhen kann und will.
Daneben gibt es für uns Europäer allerdings auch noch das ganz normale Leben in normaler Echtzeit. Lange Lernprozesse aus Kindertagen, als Europa in Scherben lag, haben sich im Langzeitgedächtnis breit gemacht und bestimmen unser Wahrnehmen, unser Bewertungsmuster, unsere Partnerwahl, unsere Familienplanung.
Da versuchen nun die medialen Eintagsfliegen anzudocken, aber was da aufeinanderstößt, ist einfach nicht kompatibel. So trainieren wir unser Gedächtnis im Wegducken, im Schönreden, im Bagatellisieren. Das klappt sogar – vordergründig – weil die Einwände aus dem Langzeitgedächtnis nicht die Zeit bekommen, ihre Sicht der „Dinge“ behutsam dem dagegen zu halten – und wir Europäer, die früher mit strahlenden Ideen und überbordendem Selbstvertrauen in die Welt zogen und so etwas wie Modell-Geber sein wollten, ziehen sich schlecht gelaunt ins Private zurück, als könnte Europa Privatier sein in einer Welt, die sie längst in ihre Abhängigkeiten hineingezwungen hat.
Aufwachen bitte! Nachdenken! Und dann gemeinsam fundierte Entscheidungen treffen in europäischer Selbstvergewisserung.