Europa – Meditation # 216
Kleine Zwischen-Bilanz: Teil II
Verschwörungstheoretiker vs. Verschwörungspraktiker
Heimtückische Verschwörer? Nichts da. Die Praktiker von Verschwörungen in den letzten Jahren müssen sich gar nicht verbergen. Nein. Da nennt man es auch nicht Verschwörung, sondern viel unverfänglicher „interne Absprachen“. Sie fahren in schicken Autos, tragen gediegene, dunkle Anzüge, gehen sehr aufrecht durch das Bankenviertel und strahlen eine Aura des Erfolgs, des Gewinnens, des Besser Seins aus. Und machen Kohle ohne Ende. Wie machen die das? Die sind einfach nur schneller und cleverer als die Konkurrenz. Und blitzgescheit. So Volkes Stimme.
Es geht also alles mit rechten Dingen zu. Meint der neiderfüllte Zaungast. Aber er kennt die clandestinen Absprachen nicht, die diese Herren in ihren Sitzungen treffen. Clandestin? Da fängt es schon an. Benutzen wir doch einfach eine etwas abgehobenere Sprache, das imponiert den meisten. Von Derivaten ist die Rede, von Headhuntern, Hedgefonds und seit einiger Zeit kommen nun auch noch digitale Wortkapriolen dazu. Lauter feine Nebelkerzen, hinter denen sich kriminelle Tatbestände verbergen.
Wer erinnert sich denn noch an den ENRON-Konzern? Massive Bilanzfälschung brachte die 22000 Mitarbeiter um ihre Altersvorsorge, die cleveren Manager hatten sich da schon längst aus dem Staub gemacht, ihre Anteile noch gewinnbringend verkauft, bevor der Kurs in den Keller purzelte. Heimtückische Verschwörer? Nein.
Gut ausgebildete, vermögende Herren, mit guten Manieren, meist mit einer Vorzeigefamilie im Hintergrund und ohne Haftung für den Schaden.
Oder nehmen wir die Cum-Ex-Betrügereien. Wieder waren junge, dynamische Blender am Werk, die selbst ihre Kontrolleure hinters Licht zu führen wussten. Man kennt sich ja, trifft sich auf dem Golfplatz, wo auch en passent clandestine Absprachen getroffen werden können. Der gesamte Aufsichtsrat wird es nur noch absegnen müssen. Und der Staat wird in großem Stil betrogen. Die feinen Blender waren in den Medien nur als Erfolgstypen präsent, nicht als Kriminelle.
Heimtückische Verschwörer? Keine Spur! Schon vergessen? Der sogenannte Diesel-Skandal. In glänzenden Karossen fuhren die Herren durch die Lande, hinter vorgehaltener Hand raunte dann der Kumpel seinem kleinen Sohn ins Ohr: „Schau mal! Die haben es weit gebracht. Die führen den größten Autokonzern der Welt!“
„Wow!“ wird dann der Kleine antworten, „sind die cool!“
Dabei haben sie jahrelang ihre Käuferschaft betrogen mit einer raffinierten Masche. Intern hielt man sich sicher für super clever und nicht zu schlagen. Das kostet den Konzern jetzt 30 Milliarden Euro. Wenn man die stattdessen als Boni an die kompetente und redlich Steuer zahlende Belegschaft gezahlt hätte, würde von denen sicher niemand jetzt demonstrieren gehen und mit den Verlierern heulen. Die wären zu Bestleistungen aufgelaufen.
Oder Wirecard – was für eine Betrugsmaschinerie wurde da in Gang gesetzt! Der reine Bluff! Heimtückische Verschwörer? Nein. Erfolgsverwöhnte Typen, die an den angesagten Plätzen in London, München, Frankfurt und New York gern gesehene Gäste waren.
Vor lauter Nebelkerzen schwadronieren die verunsicherten Zeitgenossen lieber von gefährlichen Männerbünden à la Ku-Klux-Klan oder Hinterzimmerleuten von Parteien, denen die Wählerschaft wegbricht. Als wäre es ein Schicksalsschlag, der da den kleinen Mann erwischt, clandestine Mächte mit religiösem Brimborium, statt zu verstehen, dass – nicht zuletzt mit Hilfe digitaler Finessen – Betrug und Veruntreuung von Geldern inzwischen bei vielen Wohlhabenden zum guten Ton gehören.
Redlichkeit ist längst so etwas wie ein ausgestorbenes Kleintier, an das sich kaum jemand mehr erinnert. Man begegnet ihm ja auch nirgends mehr. Dafür liefern Verschwörungstheoretiker pausenlos Tiraden, hinter denen sich die Verschwörungspraktiker à la Winterkorn, Marsalek und Braun verstecken können,
und alle rufen im Chor: „Haltet den Dieb!“