Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 107
Der Spruch des Orakels von Delphi
Das Zirpen der Zikaden macht die Hitze am Tempel Apolls auch nicht kühler. Im Gegenteil. Kadmos knirscht mit den Zähnen. Die Priester hier in Delphi haben ihn ganz schön geschröpft. Ein Spruch aus dem Mund der Pythia kostet ihn wahrlich einiges: Er soll an der Opferstraße einen Dankestempel errichten lassen, damit alle wissen, dass man selbst in Phönizien nicht auf die Weissagungen Apolls verzichten kann. Nun hofft er, dass ihm der Aufenthaltsort seiner Schwester Europa eröffnet wird. Er will unbedingt seinen Brüdern Kilix und Phoinix zuvorkommen. Endlich könnte er ihnen klar machen, dass er zwar der jüngste, aber nicht der dümmste ist.
Aber noch muss er warten. Die Pythia sitzt nun schon eine Weile auf ihrem Dreifuß und immer noch kommt keiner der stolzen Priester heraus, um ihm zu sagen, was sie weiß. Der Rundtempel wirkt auf Kadmos, als sei es die Büchse der Pandora. Wie komme ich denn gerade jetzt auf so etwas, denkt er erschrocken. Ein ungutes Gefühl macht sich in ihm breit. Die Zeder, unter der er sitzt, spendet ihm zwar Schatten, aber keine Geborgenheit. Er kommt sich so allein und verlassen vor, hier, in der Fremde, bei diesen selbstgefälligen Griechen. Erschöpft fallen ihm die Augen zu. Und dass sein Vater, Agenor, so gegen seine Schwester tobt, gefällt ihm auch ganz und gar nicht. Vielleicht sollten wir alle vier gar nicht mehr nach Hause zurückkehren. Kadmos erschrickt bei diesem Gedanken. Warum will er das? Vielleicht können sie zusammen den Vater wieder versöhnen, damit Frieden in die Familie zurückkehrt. Das wünscht er sich von ganzem Herzen. Und schon schickt er ein Stoßgebet zu Apoll: „Hilf uns, bitte, hilf uns! Wir werden als Dank auch einen Tempel errichten lassen.“
„Ganz schön heiß hier oder?“ Die Stimme neben ihm holt ihn schroff aus seinem Gebet zurück in die Hitze des Tages. Erschrocken reißt er die Augen auf. Vor ihm steht ein dunkle Gestalt. Groß, sehr aufrecht. Er kann das Gesicht des Fremden gar nicht erkennen, so blendet ihn die Sonne. Doch bevor er antworten kann, sieht er aus dem Augenwinkel, wie zwei Priester aus dem Tempel kommen. Jetzt werde ich es erfahren, jetzt wird alles gut. Kadmos erhebt sich, reckt sich und sieht nun auch das Gesicht des Fremden genau. Langes weißes Haar umrahmt freundlich lächelnde Augen, darunter ein schmaler grinsender Mund. Wenig angenehme Erscheinung, denkt Kadmos. Und dass der Fremde jetzt neben ihm steht, wo die Priester den Orakelspruch verkünden werden, passt ihm überhaupt nicht.
„Wellen werfen manches Schiff an Land. Diesmal sind es zwei, die gestrandet sind. Und schon sind sie getrennt. Eine Insel ist der Mensch.“
Kaum haben sie im Chor die Botschaft ausgesprochen, verbeugen sie sich und wenden sich wieder zum Gehen. Kadmos aber hat so viele Fragen, jetzt. Er will ihnen hinterher laufen, doch da fasst ihn der Fremde am Arm und flüstert ihm verschwörerisch zu: „Junger Mann, das ist ein ziemlich leichtes Rätsel. Soll ich es euch verraten?“