Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 7
Schwelgen in falschen Hoffnungen
Stimmen, aufgeregte, schwirren durch hohe Gänge. Schattenspiele huschen über glatte Wände. Der König wird gleich die Abgesandten empfangen und ihnen stolz seine Geschenke vorführen. Die Königin aber auf dem Weg zu ihrer Tochter Europa. Sie muss ihr die Nachricht von der Hinrichtung ihrer Amme bringen. Sehr gemischt die Gefühle der Mutter dabei. Wie wird sie es aufnehmen? Das fragt sich gerade auch der König, als er den Gästen einen Wink gibt, sich wieder zu erheben. Sie hatten sich alle gemeinsam vor seinem Thron flach auf den Boden gelegt. So erweisen sie ihm die gebührende Ehre. „Die Götter haben euch eine glückliche Reise gewährt. Das ist ein gutes Zeichen. Ihr seid erschöpft,das sehe ich wohl. Gleich gibt es reichlich zu essen und zu trinken. Vorher aber“, hier macht Agenor gezielt eine kleine Pause; gleich wittern die Fremden Verrat, Unheil. Er sieht es mit heimlicher Schadenfreude an ihren großen Augen. „Vorher aber“, fährt er langsam, sehr langsam fort, „ muss ich euch überraschen.“ Schade, dass ich nicht sehen kann, was sie jetzt denken, denkt Agenor und macht erneut eine Pause. Diesmal sogar etwas länger. Gut vernehmlich atmet er kräftig durch die Nase ein, zieht dabei die Mundwinkel grinsend nach unten, wölbt die Lippen, gibt mit der Rechten ein Zeichen. „Bringt sie herein!“ ruft er den Dienern an der dicken Doppeltür zu. Erschrocken drehen sich die eingeschüchterten Männer zur Tür hin um.
Ich muss es tun, redet sich die Königin gut zu. Europa liegt auf dem Bett, atmet kaum merklich aus und ein. Genau wie eben der Vater, so setzt sich jetzt die Mutter an ihr Bett, berührt vorsichtig ihre Hand und wartet. Die Königin ist froh, dass ihre Tochter nicht gleich aufwacht. Das gibt ihr selbst noch etwas Zeit zum Überlegen. Europa kommt in diesem Augenblick aus ihrem Traum zurück. Sie hatte wieder mit dem Fremden am Meer gesprochen. Er war also erneut gekommen. Umso überraschter ist sie nun, die Stimme ihrer Mutter zu hören. „Europa“, flüstert die Königin, „du musst jetzt ganz stark sein.“
Durch die Flügeltür kommen nun vier Diener herein, zu zweit tragen sie – wie in einer geschlossenen Sänfte – zwei fauchende Panther herein. Raunendes Erstaunen geht durch den Saal. Der König ist sehr zufrieden mit seiner Überraschung. „Nun, das ist nur der kleinste Teil von unseren Geschenken, die wir unserer Tochter Europa mit auf die weite Rückreise geben werden. Passt gut auf sie auf, euer König soll sie wohlbehalten in Empfang nehmen können.“ Das Raunen wandelt sich sofort in einen tiefen Beifallston, schließlich stampfen alle mit den Füßen. Agenor fühlt sich geschmeichelt. „Leider kann unsere Tochter am Gastmahl heute Abend nicht teilnehmen. Ihr ist nicht wohl. Euch aber sollen trotzdem die Speisen und Getränke munden, lasst euch also zu euren Plätzen im Esssaal führen.“
„Mutter, was meinst du damit?“ fragt Europa matt. „Weil die alte Amme es versäumt hat, den Anschlag auf dich zu vereiteln…!“ „Mutter, was für ein Anschlag, wovon redest du?“ fällt ihr Europa entsetzt ins Wort. „Nun, du weißt schon, was ich meine. Sie muss jedenfalls dafür bestraft werden.“ „Bestraft? Bitte, Mutter, sag, dass ich träume, dass du das gerade gar nicht gesagt hast, bitte!“ „Nein, es ist kein Traum. Sie ist schon unter der Erde.“ Als würde jemand sie wütend würgen, so kam die Atemnot über Europa blitzschnell und erbarmungslos. Ihr schwinden die Sinne. Ihr Kopf fällt zurück. Die Mutter schreit auf: „Europa, reiß dich zusammen, wir wollen nur dein Bestes. Außerdem war sie doch schon so alt und gebrechlich. Es ist gut so für sie, glaub mir.“ Da sind aber längst die Sinne ihrer Tochter geschwunden. Eine tiefe Ohnmacht erlöst sie aus ihrem großen Schmerz um den liebsten Menschen, ihre Amme, die sie doch gerade erst vor dem Tod gerettet hatte. Aber in eben demselben Augenblick, als ihr die Sinne schwinden, der Schmerz sie übermannt, jagt noch ein wilder Gedanken durch ihren wüst tobenden Kopf: Ich hasse euch, ich werde euch diesen Schmerz heimzahlen. Ich hasse euch. Freundlich empfängt sie da weich tiefe tonlose Dunkelheit.