08 Aug

Europa – Meditation # 275

Blindenführung durch Europa.

Europa, die weitsichtige, nimmt uns dieser Tage an die Hand und führt uns zu den hot-spots (was für ein zutreffender terminus technicus!) rund ums Mittelmeer. Wir sind zwar blind, aber wir können zumindest noch gut riechen und gut fühlen.

Unsere nackten Füße berühren heißen Sand und unsere Nase ist voller weißer Asche und es riecht nach Feuersbrunst. Was ist da los, Europa?

Tränen in ihren Augen verwischen ihr das Inferno-Bild: es ist nur noch glutrot und glutbelb und grauschwarz darüber, düster insgesamt. Wir sehen es nicht, wir hören aber die erbärmlichen Schreie fliehender Menschen. Wovor fliehen sie, Europa?

Und schon sind wir beim nächsten hot-spot unserer Europa-Führung.

„Eben erst waren wir auf Sizilien, auf dem Peleponnes, auf Euböa, in Milet, jetzt stehen wir am Ufer der Ahr“, flüstert uns Europa ins Ohr.

Der Ahr? Meinst du dieses kleine Flüsschen, das sich in vielen romantischen Kehren den Weg aus der Eifel zum Rhein hin bahnt?

„Ja, die meine ich“, schluchzt Europa.

„Warum weinst du, Europa?“ fragen wir, die Blinden an ihrer Hand. Doch da hören wir noch mehr Schluchzen, Weinen, Wehgeschrei. Als hätte Baal selbst, der große Wettergott in seinem Zorn eine kleine Sintflut über der Eifel entleert, so wurden sie mitten in der Nacht gewaltsam überflutet. Jetzt ist dort nichts mehr wie vorher. Und das für sehr lange. Und weiter geht die Wanderschaft unter der kundigen Führung Europas.

„Hört ihr das dumpfe Rumoren in der Erde?“ fragt Europa leise. Wir hören es, aber was hat es zu bedeuten?

„Der Ätna hat schlechte Laune und speit seine glühend heiße Glut aus sich heraus, das hat es zu bedeuten“, erwidert Europa beeindruckt.

Wir aber, die Blinden in ihrem Gefolge, finden das nicht weiter nennenswert. Soll er doch schlechte Laune haben, ist uns doch egal!

Überhaupt, haben wir gerade nicht wieder die nachrichtenarme Zeit? Eigentlich schon, aber in diesem Sommer ist alles so anders als sonst – oder?

„Unsere Verwandten – die Flammen, der Wind, die Flut, die Lava – sie rotten sich zusammen und ziehen zu Felde. Gegen uns alle, ihre kleinen Halbgeschwister, die mutwillig immer noch so tun, als hätten sie nichts miteinander zu tun – höchstens insofern, als wir glauben, wir seien die bessere Hälfte der Erdfamilie, wir hochmütigen.

Da mischt sich mit zitternder Stimme Europa ein in unser selbstgefälliges Selbstgespräch:

„Hat nicht schon vor langer Zeit im alten Griechenland das Orakel immer wieder geweissagt, dass Hybris schon immer stehenden Fußes bestraft wird?

Hat sie das nicht?“

Uns aber fehlen die Referenzbilder im eigenen Land – jedenfalls bisher. Sonst hätten wir längst auf den Amok-Lauf, den wir Erdlinge seit einiger Zeit hysterisch inszenieren, mit Ohnmacht, Koma reagiert, weil wir nicht

wissen, wie man reagieren könnte. Wenn aber die furchtbaren Bilder näher und näher kommen, hilft eben nicht individueller oder kollektiver Blindflug, denn wir sind längst in einer atemberaubenden Spirale des Unheils eingespeist, der die gesamte Familie, also alle Verwandten dazu – vom Bonono, der Schildkröte über den Steinadler, das Korallenriff bis hin zu den komatösen Corona-Intensiv-Patienten europaweit erfasst hat.

Müssen denn erst die Donau, die Elbe und der Rhein aus ihrem Schlaf gerissen werden, damit auch der letzte versteht, dass es keine Ausnahmen mehr gibt, dass sich kein Elysium mehr kaufen lässt – irgendwo – dass nur noch das Helfen helfen kann, nicht das Ausbeuten, Quälen und „Herrschen“?

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