Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 121
Die Rückkehr der glücklosen Brüder nach Sidon / Teil III
Kilix, Kadmos und Phoinix versuchen zu verstehen, was sie gerade von der so grässlich kreischenden Alten hatten hören müssen. Ufroras, der König der Assyrer, war es also. Aber warum? Er war zwar der abgelehnte Brautwerber um die Hand ihrer Schwester Europa gewesen, aber sonst? Warum war ihr Vater, Agenor, gegen ihn zu Felde gezogen? Wenn doch nur ihre Mutter noch lebte! Sie würde sie trösten, sie würde den Göttern opfern, würde die Orakel befragen, würde ihnen sicher wieder Hoffnung machen wollen. Aber Telephassa, ihre Mutter, ist ja längst in der Welt der Geister angekommen.
„Vielleicht träumen wir von ihr, vielleicht weiß sie Rat, vielleicht…!“ beginnt Kadmos leise vor sich hin zu reden.
„Von wem redest du denn überhaupt?“ fragt ihn Kilix unruhig.
„Von wem schon, von unserer Mutter natürlich. Stimmt‘s, Kadmos?“ mischt sich Phoinix ein.
„Hört auf damit, bitte. Kommt, lasst uns lieber zum Palast gehen…“
„Oder was davon noch übrig ist!“
„Egal. Los, am Abend sollten wir wissen, wo wir übernachten können!“
Die drei Brüder machen sie niedergeschlagen auf den Weg. Überall nur Trümmer oder Häuser mit eingestürzten Dächern, ehemalige Säulengänge sind nun nur Hindernisse, die im Weg herum liegen. Und überall zerlumpte Menschen, Kinder, an kleinen Feuern zusammen sitzend oder wortlos vor sich hin starrend, lautlos redend oder gestikulierend. Unsere drei Brüder versuchen möglichst nicht hinzuschauen. Sie wollen auch von niemandem erkannt werden. Die Armen suchen sicher einen Schuldigen für ihr Unglück, und was wäre näher liegender als des Königs Söhne auszuwählen?
Nur mühsam kommen sie voran. Sie erkennen ihre eigene Heimatstadt, ihre Gassen nicht mehr wieder. Doch am späten Nachmittag erreichen sie endlich den Platz vor dem Königspalast, der nur noch als Ruine von ehemaliger Größe und königlichen Festen erzählt. Sie haben Hunger. Sie sind übermüdet, erschöpft und niedergeschlagen. Müde setzen sie sich auf dem Vorplatz einfach auf den Boden – sie meiden die Mauerreste des Palastes, die noch stehen, sie könnten jeden Augenblick einstürzen.
So sitzen sie stumm da, ratlos, verzweifelt.
Doch dann kommt unvorhergesehen Bewegung in die Szene, denn in dem Augenblick, als auf Kreta die Erde bebt und der große Suppenzuber vor dem Tempel der großen Göttin scheppernd zu Boden stürzt und dort das Sterben der Tiere beginnt, bebt auch im fernen Phönizien, im zerstörten Sidon, die Erde. Großes Geschrei ist überall zu hören, Mauerreste fallen knirschend in sich zusammen, jetzt kommen einige Erschrockene auf den leeren Platz gelaufen, wo auch unsere drei Brüder aus ihrer dumpfen Trauer unsanft hoch geschreckt werden. Dann unheimliche Stille.
„Was war das?“ fragt Kilix seine Brüder, „ist nicht schon genug Leid über die Stadt gekommen? Schicken die Götter noch eine Strafe hinterher? Warum?“