11 Aug

Europa – Meditation # 277

Die Flüchtigkeit von Welt und Leben. Teil I

1953 und 2021

Europa 1953. Das ist gerade mal 68 Jahre her. Wer erinnert sich noch an dieses Wochenende? Mitten im Winter tobt in der Nordsee ein Sturm. Nichts besonderes für die Jahreszeit. Die Menschen planen für ein gemütliches Wochenende am Kamin, im Kreise der Familie.

So auch die Schwestern Cornelia und Roberta. Eigentlich soll Roberta auf Zeeland zum Geburtstag des Patenkindes, Sonja, fahren. Cornelia will mit ihrem Mann ausgehen.

Aber die beiden Schwestern tauschen spontan ihre Rollen, so dass Cornelia nach Zeeland fährt und Roberta stattdessen ausgeht. Zufall?

Im Radio wird ein Sturm gemeldet. Na und? Holländer sind Ärger gewohnt.

Als Cornelia spät am Abend Sonja ins Bett gebracht hat – natürlich muss noch eine Geschichte vorgelesen werden – stürmt es draußen schon recht ordentlich. Als sie zur Toilette geht und aus dem kleinen Fenster auf die Straße schaut, wo ihr Wagen geparkt ist, sieht sie, dass bereits über die gesamte Breite der Straße Wasser strömt, zum Teil auch schon über die Bürgersteige. Muss ich mir Sorgen machen, sollte ich noch schnell mit der letzten Fähre zurückfahren nach Amsterdam?

Die Antwort gibt ihr der Sturm und der Regen, der wie in Sturzbächen vom Himmel fällt.

Stunden später sieht man die gesamte Familie zusammen mit Cornelia auf den Dachboden umziehen. Die Sturmflut meint es diesmal richtig ernst: Autos schwimmen bereits durch die Straße, Cornelias Auto ist längst weg und das Wasser hat die untere Etage schon völlig unter Kontrolle. Schwankt nicht bereits das Haus? Werden sie von Helfern gerettet werden? Das Wasser steigt.

Cornelia zittert am ganzen Leib, Sonja weint, die Eltern starren ins Leere. Das Gebälk ächzt, von oben tropft es mehr und mehr, jetzt quillt das Wasser auch schon durch die Öffnung des Dachbodens nach unten herein. Der Sturm heult auf, Regen peitscht gegen die Schindeln, alle klettern auf die Zwischenbalken, ihre Beine baumeln nun über grau-schwarzer Flut, die langsam weiter steigt. Ob Roberta an mich denkt, denkt Cornelia verzweifelt? Ob sie gerettet werden?

Dann geht alles ganz schnell: Die Giebelwände stürzen ein, lassen die Balken bersten, die schreienden Menschen fallen ins kalte Wasser, dass gierig nach ihnen zu greifen scheint. Die Mutter versucht verzweifelt ihr Kind über Wasser zu halten, der First stürzt auf sie, erschlägt alles, was ihm in die Quere kommt, da ein Arm, da eine Hand, Luftblasen…

Es ist das Wochenende, an dem in den Niederlanden der 15. Geburtstag von Prinzessin Beatrix gefeiert wird. Einsatzkräfte können weder zu Lande, zu Wasser oder in der Luft ausrücken. So sind die Menschen dem Wüten der Natur hilflos ausgeliefert. Man muss warten, bis der Sturm und die Flut nachlassen. Später wird von mehr als 2000 Toten berichtet werden. Vergessen.

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