Europa – Meditation # 315
Zusammenhalt? Was für ein Zusammenhalt denn?
Von allen Seiten wird dieser Tage beschwörend oder beklagend angemerkt, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft in Gefahr sei, verloren zu gehen.
Könnte es sein, dass bei dieser grundsätzlichen Klage ein Bild der Vergangenheit vorausgesetzt wird, das so nie bestanden hat?
Nach den „großen“ ideologischen Mustern, die vor dem Zweiten Weltkrieg en vogue waren (Ein Volk, ein Reich…)wollten die Mitteleuropäer reuig kleine Brötchen backen und sich brav an Vorbildern orientieren, die aus Übersee zu ihnen herüber irrlichterten.
So übte man sich in unbändigem Konsumieren und Konkurrieren – nicht nur im ökonomischen, nein auch im persönlichen Umfeld. Individualismus und solider Egoismus wurden die Parameter, entlang derer man sich üben musste: Schon im Kindergarten fanden und finden immer noch die ersten wichtigen Übungen statt (in Frankreich ist man da noch früher streng dabei, die Kleinen auf Vordermann zu bringen und sich nicht an Muttis Schürze zu klammern: setz dich durch, lass dir nichts gefallen, du bist dein eigner Herr! Den entsprechenden Satz für das andere Geschlecht: du bist deine eigne Herrin kommt da eher nicht vor; stattdessen vielleicht: heul nicht rum, räum auf und sag‘ „Entschuldigung“!); also gleichzeitig auch grundlegende Übungen im patriarchalischen Hamsterrad. Übungen, die alle dazu dienen, den späteren Konsumenten zu konditionieren und den Egoisten im Kind zu festigen. Gekoppelt mit einer durch die Werbung pausenlos niederprasselnde Material-Kauf-Schlacht wurde so die Gesellschaft atomisiert in Millionen Einzelkämpfer, die ihren Erfolg an ihren Statussymbolen ablesen konnten. So lange Aufschwung und gute Nachrichten von der Börse andauerten, funktionierte dieses amerikanische Ein-Mann-Projekt scheinbar reibungslos. Jetzt, wo wegen der Pandemie und der stotternden Weltwirtschaftslage – Bauteile fehlen, Lieferfristen können nicht eingehalten werden etc. – das bisher so „erfolgreiche Modell“ in Schieflage gerät, werden die Schuldigen gesucht.
Und da zeigt es sich dann, dass es eben nie einen „Zusammenhalt der Gesellschaft“ im Sinne einer friedliebenden, ausgleichenden Respekt- Haltung vor dem anderen gegeben hat, dass die Aggressionen im Konkurrenzkampf nur schön ins Konsumieren kanalisiert werden konnten. Da konnten sie sich phantastisch austoben – lächerlichstes Beispiel von gestern: mit mehr als 400 km/h über die Autobahn pesen und es der Welt gleich auch noch posten.
Am deutlichsten kann man diesen ideologischen Scherbenhaufen in den Grundschulen besichtigen: Dort quengeln Kinder um Aufmerksamkeit, haben aber keine Lust und auch keine Ahnung etwas zu lernen, Eltern in einer anmaßenden Anspruchshaltung klagen über das „Personal“, und die dort arbeitenden Frauen zerreiben sich zwischen Zuwendung und erzieherischem Zielen. Von Zusammenhalt keine Spur. Wie denn auch?