Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 139
Der Abend vor dem großen Fest auf Kreta.
Europas Puls geht doch viel schneller als sie gedacht hatte. Sie hatten heute eine Generalprobe mit allen Höhen und Tiefen.
„Das ist auch gut so!“ hatte Chandaraissa die Pannen, die den Tänzerinnen unterliefen, kommentiert.
„Auch das Wetter wird wohl gut werden, morgen“, mischt sich Belursa kleinlaut ein; sie ist voller Schuldgefühle, war sie doch unglücklich über ihr Gewand gestolpert, als sie ihr Solo hatte.
„Belursa, du wirst morgen schöner und besser sein als je, da bin ich ganz sicher“, erwidert mit strahlendem Gesicht Europa. Kichernd zieht Sarsa, ihre Freundin, sie zur Seite, beide knallrot vor Verlegenheit und Freude.
„Kommt, gehen wir alle zusammen in den Innenhof. Da versammeln sich gerade die Ratsherren und Archaikos vor dem Altar der großen Göttin. Sie wollen sie für das große Ereignis gewogen machen, kommt!“ ruft Chandaraissa in die Runde der tratschenden Priesterinnen, „kommt!“
Die Abendsonne wirft lange Schatten über den Platz, den hohe Säulen nach allen drei Seiten begrenzen, während die vierte Seite, die Fassade des Tempels, noch golden angestrahlt wird.
Der Minos von Kreta hat drei Priester vom Zeustempel mitgebracht, die gerade mit Weihrauchschalen den Altar murmelnd umschreiten. Die alten Ratsherren auf den Knien mit vorgebeugtem Oberkörper – so gut sie das noch in ihrem hohen Alter hin bekommen – murmeln ebenfalls Gebete vor sich hin. Vielleicht auch Flüche auf Archaikos oder die Hohepriesterin. Jedenfalls geben sie sich Mühe, so etwas wie Harmonie zu signalisieren. Das Feuer im flachen Feuertopf auf dem Altar lodert jetzt hoch, als ein Priester Gewürze hinein streut. Oben am Rand der Fassade sitzen wie immer die Raben, tippeln jetzt nervös hin und her, weil da unten so viele Menschen versammelt sind. Dann fliegen sie in lautem Geschrei und wie auf Kommando auf und in großem Bogen über den Platz Richtung mehr.
Überrascht blicken alle nach oben. Viele von ihnen werden jetzt denken: das ist ein Zeichen der Göttin, sie meint es gut mit der Insel. Viele aber werden auch ängstlich dagegen halten: das ist ein schlechtes Zeichen, die Götter schicken uns ein warnendes Zeichen. Was braut sich da vielleicht über Nacht zusammen, was wird der morgige Tag bringen, mit diesem unbekannten Festtanz, über den nun schon seit Wochen geredet, gemunkelt und orakelt wird.
Auch die jungen Priesterinnen waren erschrocken zusammen gefahren, als die Vogelschar so laut krächzend abhob. Sie werfen sich gegenseitig ängstliche Blicke zu. Steht ihr Tanz vielleicht doch nicht unter einem guten Stern? Nur Europa strahlt Hoffnung und Zuversicht aus. Die letzten Sonnenstrahlen spiegeln sich vielfarbig in ihren lachenden Augen. Endlich ist es so weit, endlich, denkt sie dankbar und stolz zugleich.