Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 147
Der Tag der vielen Abschiede von Kreta.
„Wo auch immer ihr an Land gehen werdet, seid ehrfürchtig vor ihren Göttern. Die große Göttin will es so. Sie tanzt mit allen den Welttanz, einträchtig.“
So spricht die Hohepriesterin Chandaraissa zu ihren jungen Priesterinnen am Morgen des Abschied Nehmens. Die meisten haben Tränen in den Augen. Und die Gefühle spielen verrückt: Was wird aus mir werden? Wie kann ich der großen Göttin am besten dienen? Wen werde ich auswählen? Werde ich der großen Göttin gerecht werden? Werde ich meine Freundinnen je wiedersehen? Und meine Eltern? Die Hohepriesterin?
Dann die Prozession zum Hafen. Ihre wenigen Habseligkeiten in einem Sack auf dem Rücken. Um sich Mut zu machen, singen sie ihre Kinderlieder. Dann sehen sie die vielen Masten im Hafen. Neugierige Kreter stehen bei den Schiffen.
Bald sind sie verteilt auf die Boote. Sie wissen, wer wohin segeln wird:
Amirta soll in den Westen, nach Hesperien mitreisen.
Turguta wird mit dem Schiff reisen, das Olivenöl geladen hat: es geht weit in den Nordosten, in ein fernes Meer, das Aksaena genannt wird, was so viel heißt wie das Dunkle, das Schwarze.
Sahalaia fährt mit einem breiten Segler nach Eryx, zu den Elymern
Sarsa mit Kräutern und Geräten aus der Schmiede nach Alalia
Belursa wäre so gerne mit Sarsa zusammen geblieben; aber die Hohepriesterin macht keine Ausnahmen; so wird ihr Schiff sie – bei hoffentlich günstigen Winden – nach Moncodonja bringen.
Athanama, die Priesterin aus Sidon und neue Freundin von Europa, steht jetzt neben Chandaraissa am Hafenbecken und umarmt die Abreisenden – eine nach der anderen. Dabei gibt sie jeder ein kleines Amulett mit – es ist geformt wie die große Statue der großen Göttin, oben in ihrem Tempel.
Die Mannschaften auf den Booten starren die jungen Frauen an, als wären sie Traumgestalten. Ein leidenschaftliches Begehren wühlt ihr Blut auf. Aber sie halten sich zurück. Denn schon nur als Tagtraum mit ihnen zusammen zu sein, ist ihnen Wonne und Seligkeit. Als umgäbe die jungen Priesterinnen eine besondere Aura, die sie schützt und wunderbar wirken lässt. Friedvoll. Sanft. Gewogen. Sind das die Folgen des großen Tanzes? Ist das das Wirken der großen Göttin? Ist sie mitten unter ihnen?
Sie nehmen es mit auf ihre große Reise ins Unbekannte, wollen es dort weitergeben, überallhin. Günstige Winde kommen auf. Ein Zeichen?