Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 12
Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 12
Eine echte Herausforderung. Endlich einmal eine Frau, die nicht nur Frau ist, sondern auch noch schlau dazu, hätte man oben im Olymp den Göttervater schmunzeln sehen können. „Was grinst du so komisch?“ fragt auch schon sein Frau und reißt ihn aus den schönsten Träumen. „Ich? Ach, ich habe mir nur gerade vorgestellt, war Hades für Augen machen wird, wenn ich bei ihm in der Unterwelt so einfach ohne Anmeldung auftauche.“ „Der, der wird ganz schön sauer auf dich sein“, antwortet Hera ohne Umschweife, „der hat wohl noch die eine oder andere Rechnung mit dir offen.“ „Nicht mein Problem“, kontert Zeus, der eigentlich verärgert ist, weil seine Frau ihn aus seinem schönen Tagtraum mit Europa gerissen hat. „Was treiben eigentlich Apoll und Artemis im Moment, ich habe sie jetzt schon eine ganze Weile nicht gesehen?“ Vielleicht ist ein weiterer Themenwechsel gut, sie loszuwerden, denkt er genervt. „Höre ich da so etwas wie Kritik im Hintergrund bei deiner Frage?“ bellt Hera gleich hinterher. Zeus ist nun nur noch mehr genervt. Er hat wirklich keine Lust, jetzt mit seiner Frau zu streiten, das ist einfach zu mühsam, sie will immer das letzte Wort behalten. Soll sie doch. „Aber nein, meine Liebe“, säuselt er zurück, schließt die Augen und tut so, als sei er eingenickt. Hera wird jetzt sicher schauen wollen, was Apoll und Artemis denn wirklich treiben. Im Grunde wundert sie sich nämlich auch, wo die beiden stecken.
So hat Zeus seine Ruhe und kann wieder in aller Ruhe an das kommende Wochenende denken. An Europa! Ein Floß, ja, ich werde sie mit einem Floß abholen, aus erlesenen Zedernstämmen, das wird der Prinzessin aus Phönizien sicher imponieren. Das ist sein nächster Gedanke. Zeus findet ihn wie immer genial. Und ein weiterer fliegt ihm gleich hinterher (wenn er erst einmal mit Denken in Fahrt gerät, ist er kaum mehr zu halten!): Wenn ich Europa so mit ihren Eltern streiten höre, wird mir natürlich auch klar, dass ich vorsichtig sein muss – die vertrauten Muster sollte ich wohl besser zu Hause lassen. Ich werde sicher mehr mit einfühlendem und weichem Ton punkten als mit herrischem und strengem Gehabe. Also als ein junger Mann werde ich vor ihr erscheinen und sprechen, der in mir all das sehen kann, was sie an ihrem Vater und zukünftigen Gatten alles so gar nicht schätzt. Dann wird sie mich großartig finden, und ich muss mich auch gar nicht erst groß anstrengen. Zeus ist geradezu überwältigt von seinem Ideenreichtum und sieht sich schon als großer Gewinner im neuen Abenteuer.
Im Königspalast an den Gestaden Phöniziens ist wieder der Alltag eingekehrt, so jedenfalls sieht es aus: Die Brautwerber wieder nüchtern und zur Abreise bereit, die Geschenke des Königs schon unterwegs ins Land der zwei großen Ströme – schließlich werden die Tiere nicht so schnell mit ihren Treibern und Trägern vorankommen, wie die restliche Karawane. Der Festsaal ist ausgekehrt und menschenleer, der König auf der Jagd, die Königin mit Kopfschmerzen in ihren Gemächern. Niemand soll sie stören. Und Europa? Die Braut ist von ihrem Vater aufgefordert worden, alles, was sie mitnehmen möchte, in große Kisten verpacken zu lassen – ganz gleich ob es Kleider, Geschenke, Möbel oder Geschmeide sind – alles einfach. Ihr Vater will mit seiner Großzügigkeit seine Tochter bestechen. Er möchte sich nicht im Streit von ihr verabschieden. Das rührt Europa. Aber es ändert nichts an ihren Plänen. Im Gegenteil. Sie wird nur alle in der Gewissheit wiegen, dass sie vollständig hinter den Heiratsplänen der Eltern steht, in dem sie alles packen lässt, so wie es der Vater wünscht. Keiner wird Verdacht schöpfen. Traurig nur, dass sie nun mit niemanden ihren Plan teilen kann, jetzt, wo die Amme tot ist. Jeden Tag betet Europa im Tempel für sie, jeden Tag. Und jeden Tag hofft sie auf die Hilfe der Göttin, dass ihre Flucht gelingen möge, dass der Fremde auch wirklich – wie verabredet – am übernächsten Tag erscheint, um sie abzuholen, mitzunehmen, wohin auch immer. Nur weg von zu Hause. Nur weg aus dieser festgefügten Welt aus Angst, Gewalt und Schrecken, in der selbst die Eltern ihre Kinder meinen quälen zu müssen, um ihnen zu ihrem wahren Glück zu verhelfen. Europa kann nur verächtlich darüber lachen. Das ist nicht ihre Welt. Und sie fühlt sich ganz sicher, dass sie dabei ist, in eine aufzubrechen, in der Lebensfreude, Liebe, Leidenschaft und Wohlwollen das Leben der Menschen bestimmen wird. Sie weiß nicht, wo das sein wird und wer das ist, mit dem sie es wagen wird. Aber sie wird es wagen. Übermorgen schon.