Europa – Meditation # 376
Mitten in Europa benötigen wir dringend wieder ein „WIR“. (TEXT I)
Die unaufhaltsame Beschleunigung einer ununterbrochenen Berieselung drückt jeden unbarmherzig an die Wand der Synapsen-Erschöpfung: Da ist keine Zeit mehr zum Nachdenken, kein Raum mehr für Alternativen, keine Lust mehr für Eigenes. Der Zeitgenosse als Zuschauer – in den Stadien nachhaltig konditioniert – schläft abgefüllt vor seinem Großbildschirm kleinlaut ein; traumlos und unausgeschlafen wacht er schlecht gelaunt wieder auf, nur um das gleiche Muster in den kommenden Stunden zu wiederholen.
Als Kind wurde er in der Kita, auf Kindergeburtstagen, in der Grundschule und später auch noch in der Oberstufe zum eigenständigen „ICH“ verzogen, das die Wirklichkeit als Konsumtempel durchstreift und sich nimmt, wozu es Lust hat. Pappa oder Mama werden es – wie immer – schon bezahlen. Ich bin gut unterwegs, konkurriere fröhlich mit den anderen ICHS und lasse mich tragen von der Fortschrittswelle bis an die entlegensten Winkel des Planeten. Das Morgen warten schon mit noch besseren Angeboten für mich. Ich bin gut aufgestellt, ich bin richtig, ich bin erfolgreich, gnadenlos erfolgreich. Jedenfalls zumindest im Blick in den Spiegel. Nach und nach muss eben auch ein bisschen Koks nachhelfen. Das kostet. Aber es gibt nur den Weg meines ICHS weiter nach oben. Notfalls mit Hilfe geschönter Doktorarbeiten, mit plastischer Chirurgie, Bestechung und keiner falschen Scham vor Korruption.
Burn-out oder/und Klinikaufenthalt und Dauerbegleitung eines Psyhologen – der wie bei den Triumphzügen im alten Rom sein memento mori als gut bezahltes Programm abspult – sind doch nur Ausdruck meines unaufhaltsamen Erfolgsstrebens, bei dem „natürlich“ Kosten anfallen.
Es reicht. Echt.
Die kalte Einsamkeit eines solchen ICHS – in bester Gesellschaft von Millionen anderer solcher ICHS – bedarf dringend wärmender Bodenhaftung. Und die gibt es nur in der wirklichen – und eben nicht bloß digitalen – Gesellschaft mit jungen Zeitgenossen, die sich für neun Monate zusammentun, um gemeinsam zu erleben, dass das Wohlgefühl der Seele und des Körpers nicht im kreiselnden ICH stattfindet, sondern in der Gemeinschaft bescheidener Verhältnisse, in denen konkrete Arbeiten und Übungen für das Volk, das einem Heimat ist, jedem nachhaltig vermitteln, dass das Ich nur im tatsächlichen WIR-Gefühl die Sicherheit und Sinn-Fülle finden kann, die es im digitalen niemals finden konnte.
Diese herbe Pause tut nicht nur den jungen Männern, nein auch den jungen Frauen, nur gut. Denn bis dahin war so etwas wie Eigenverantwortung und kritische Bestandsaufnahme – wo komme ich her, wer bin ich und wo will ich hin? – noch nicht angesagt. Das Leben war bis dahin eben bloß Spielwiese, Schadenfreude, Verschwendung und Selbstüberhebung. Wie soll man da überhaupt zu einer ernst zu nehmenden Berufswahl kommen?
Also Pause. Eine erste, ernste Pause. Übungen im WIR. Dann sehen wir weiter. Neun Monate in Bescheidenheit und Unterordnung. Fragen?