Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 13
E u r o p a – Fortsetzung der alten Geschichte # 13
Europas Nasenflügel beben. Die feinen rotgold glänzenden Härchen auf ihren Armen scheinen sich aufrichten zu wollen. Jeder Atemzug eine Erfrischung, jeder Wimpernschlag eine Offenbarung von Glück, Sehnsucht, Wollust und großen Träumen. Es ist so weit. Noch ist der Sand am Strand kühl und feucht, noch ist niemand da, außer eben Europa. Und der triumphale Zug der Sonne in den Morgen steht noch bevor.
Die Stadt mit ihren festen Mauern und bewachten Toren, der Palast ihrer Eltern, die Sklaven und Eseltreiber der Brautkarawane, alles ist wieder wie sonst. Die Menschen träumen sich in den neuen Tag, wollen noch eine Weile liegen bleiben, bevor sie endgültig aufstehen müssen. Es wird keine besonderer Tag werden. Nach den vielen Feiern für die Gäste aus dem Zweistromland kehrt der Alltag lautlos zurück in die Königsstadt am Meer.
Gierig saugt Europa die frische Luft ein, aber wo ist er? Der Fremde hat es versprochen. Bei Neumond. Also jetzt. Und in ihren Träumen, aber auch jeden Tag in ihren Gedanken war es längst geschehen. Und das Schiff, wo ist sein Schiff? Ihre Füße bewegen sich langsam vorwärts, dann beginnt sie zu laufen. Sicher liegt es in der Bucht weiter südlich von hier. Ich will ihm entgegen laufen. Und wie ihr Herz klopft. Das gleiche Gefühl wie neulich, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Jetzt erreicht sie die Stelle, von wo man in die Bucht hinein sehen kann. Ja, da ist es. Nein, es ist ein Floß, ein großes zwar, aber eben doch kein Schiff. Wem gehört es? Europa starrt ratlos hinüber. Dann sieht sie den Mann, der gerade vom Floß ins flache Wasser springt und zu winken scheint.
Endlich beginnt das Abenteuer, denkt er vergnügt. Die Frau und die Kinder haben ihm seine Geschichte abgenommen: Er ist auf dem Weg zu seinem Bruder in die Unterwelt. Ein wunderbares Alibi. Da kommt ihm eine göttliche Idee:
„Ich könnte mich auch ruhig mal wieder in ein Tier verwandeln. Was würde sie wohl sagen, wenn ich als Stier vor ihr erschiene? Mit glänzendem weißem Fell? Das wäre sicher ein starker Auftritt. Mit einem mächtigen Skrotum zwischen den strammen Beinen, das wirft sie unbedingt um.“
Gerade springt er von seinem prachtvollen Floß ins seichte Wasser und will sich noch schnell verwandeln, das sieht er sie am Rande der Bucht stehen. Sie hat ihn wohl schon entdeckt. Dann geht das mit dem Stier natürlich nicht mehr. Schade, denkt er. Aber mein jetziges Aussehen ist ja auch nicht übel: Junger, muskulöser Sportler wird ihr Herz sicher höher schlagen lassen. Aber es ärgert ihn doch ein bisschen, dass die Stieridee ins Wasser fallen muss. Winken, ja, das ist jetzt sicher angebracht. So winkt er vorsichtig. Mit der rechten Hand, die er leicht gehoben hat, so aus der Hüfte heraus. Fühlt sich gut an, die Geste, spricht er mit sich selbst und wundert sich, dass er nervös zu sein scheint.
„Ich und nervös? Wer bin ich denn? Das ist mir ja noch nie passiert.“
Einmal ordentlich durchatmen, ihr freudig entgegen schreiten, dann Arme ausbreiten und abwarten, wie sie reagiert. Sicher ein schönes Bild. Meine Leute da oben würden bestimmt ordentlich staunen, wenn sie es sähen. Er lacht. Er fühlt sich so jung jetzt, so siegesgewiss, so stark und unwiderstehlich.
„Ich werde sie nach Kreta entführen. Dort ein paar Tage mit ihr verbringen, und mein Floß, das schenk ich ihr hinterher – als Andenken.“
Europa wundert sich. Vielleicht ist er es gar nicht. Aber würde er dann winken? Und ihr wild pochendes Herz sagt ihr sowieso, dass er es ist. Und jetzt, wo er ihr näher kommt, erkennt sie ihn auch wieder. Er ist es. Der Fremde. Mit dem sie fortgehen will in ein völlig neues, unbekanntes Leben. Sie ist bereit dazu. Ihre Göttin wird ihr beistehen, da ist sie sich ganz sicher. Zögernd geht sie ihm entgegen. Und als er ihr jetzt schon recht nahe ist, hält sie vor Freude den Atem an: Er geht in die Knie, breitet seine Arme aus, erwartet sie. Wie kräftig, wie wohlgestaltet er ist, denkt sie voller Freude und Begierde. Nun läuft sie zu ihm hin, kann es kaum fassen, mit welch strahlenden Augen er sie anschaut. Sie hält an. Was soll ich jetzt tun? Was sagen? Oh, liebste Amme, murmelt sie erschrocken, warum hast du mir nicht beigebracht, was man jetzt sagen muss?