10 Mrz

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 155

Das geheime Treffen der Ratsherren ( Teil 2)

Während im Ratssaal das Geschrei der alten Männer kein Ende zu finden scheint, warten Europa und ihre Zwillinge auf den Stufen vor dem großen Tor des Palastes auf die Trommler und Tubabläser. Und in Windeseile haben die Kreter, die auf ihren Fisch- und Gemüseständen weiter ihre Waren feil bieten, mit den Frauen sofort die wildesten Gerüchte ausgetauscht:

Warum stehen die da auf den Stufen des Palastes? Ist der Minos tot?

Der Minos ist tot.

Der Minos ist wieder gesund und wird gleich auf dem Balkon oben erscheinen.

Die Hohepriesterin ist beim Minos – sie soll ihm beim bevorstehenden Tode beistehen.

Seine neue Frau, Europa, und ihre Zwillinge sind verstoßen worden. Sie stehen auf der Treppe und fürchten um ihr Leben.

Die Ratsherren sind von den Wächtern in Ketten abgeführt worden. Man hört sie noch schreien.

Da ertönen aber in das wilde Geraune und Getuschel der Händler und Käuferinnen plötzlich Trommeln. Ein Wirbel nach dem anderen. Dann die Tubabläser. Sie stehen oben hinter den Zinnen der hohen Mauer des Palastes. Was hat das zu bedeuten? Gleich kommen vom Hafen her Fischer, Kinder, Frauen und Männer aufgeregt herbei gerannt. Das Volk glaubt, der Minos ist gestorben, ihr Minos. Archaikos. Sie gehen in die Knie. Reißen die Arme hoch. Wehgeschrei ertönt. Dann wieder die Trommeln, dann wieder die Tubabläser.

Und alle starren auf Europa und ihre Zwillinge. Jetzt hebt Europa einen Arm. Sie bittet um Ruhe. Im Halbkreis um sie herum stehen jetzt die Wächter. Stille, völlige Stille.

„Hört, hört, Kreter! Der sterbende Minos hat mir seine Vollmachten übergeben, ich soll als Vormund an der Seite der beiden Zwillinge die Herrschaft verwalten, bis die beiden – Parsephon und Samadanthys – ihre Weihe als Männer erhalten haben. So ist es sein Wille.“

Die Stille wächst weiter. Die Menschen versuchen zu verstehen, was sie gerade gehört haben. Denn das hat es auf Kreta noch nie gegeben. Noch nie.

Dann krachen in diese Stille hinein – viele sind bereits auf ihre Knie gesunken, neigen gehorsam ihre Häupter – die Flügeltüren des Ratssaales auf und laut gestikulierend und schreiend kommen die alten Männer heraus gestolpert. Die Menschen starren sie an. Sie fühlen sich gestört, in diesem so besonderen Augenblick. Europa und die Zwillinge, auf den Stufen des Palastes. Feindselig blicken die Kreter auf diese alten Männer, die da wie eine wild gewordene Schafherde blökend auf sie zugerannt kommen. Jetzt auch wieder erneuter Trommelwirbel, danach wieder die Tubabläser von oben herab.

Da wird dem Haufen alter Ratsherren klar, dass sie zu spät kommen. Sie spüren: Das Volk hasst sie. Sie sind so reich, so mächtig, so unnahbar. Jetzt werden sie bestraft, sie kommen zu spät. Als wären sie gar nicht da, neigen nun alle kniend ihre Häupter zu Boden und geben so Europa und den Zwillingen zu verstehen: Wir gehorchen euch, wir nehmen den Spruch des sterbenden Minos an. Es ist gut so.

Die alten Männer aber erstarren zu Eissäulen. Berberdus flüstert Pallnemvus ins Ohr: „Jetzt können wir nichts tun. Wir müssen still halten. Aber wir werden es nicht annehmen.“ Pallnemvus nickt nur. Und in den Köpfen der anderen Ratsherren rast der Zorn wild hin und her: Wir sind übergangen worden. Wir werden uns rächen. Sie ist ja nur eine Frau. Und die Zwillinge Frischlinge.

Da kommt vom Tempel der großen Göttin die Hohepriesterin. Sie geht auf die drei zu, die jetzt auf den Stufen ebenfalls in die Knie gehen. Chandaraissa legt ihnen ihre Hände auf ihre Köpfe. Zuerst Europa, dann Samadanthys, dann Parsephon. Die Hohepriesterin schaut nun auf den stummen Kreis der alten Männer. Sie wissen, was das bedeutet. Sie müssen sich jetzt auch verbeugen. Die große Göttin will es so. Alle schauen gespannt auf die Ratsherren. Einer nach dem anderen verneigt sich nun doch. Während über ihre alten Gesichter Blitze zu zucken scheinen. Aber es hilft nichts. Dann hören alle die feste Stimme Europas:

„Wir danken euch allen. Wir werden zum Wohle der Insel und unter dem Schutz der großen Göttin diese schwere Zeit gemeinsam mit euch allen glücklich zu gestalten wissen.!“

Dann nimmt sie die Zwillinge an ihre Hände, wendet sich mit ihnen zum Gehen und verschwindet – während die Trommelwirbel erneut erwachen – im Inneren des Palastes.

Und kaum haben sich die Menschen leise mit einander redend vom Vorplatz entfernt, stehen auch schon die Ratsherren dicht bei einander; und was da an finsteren Plänen bereits raunend angedeutet wird, lässt nichts Gutes vermuten. Gar nichts Gutes.

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