Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 163
Die Seereise nach Sidon wird zum Albtraum.
Arglos trifft Europa ihre Vorbereitungen. Sie bespricht die Reise, zu der ihr der Fremde rät, weil das Orakel von Sidon anscheinend eine Botschaft für sie hat. Sie bespricht sich mit Chandaraissa, der Hohenpriesterin, dann auch mit Berberdus, dem Vorsitzenden des Rates der Alten. Alle unterstützen sie in ihrem Plan. Berberdus sicher, weil er hofft, dass ihm vielleicht das Meer hilft, sie los zu werden. Und Athanama, ihre neue alte Freundin, möchte sie begleiten. Und Chaturo, der Kapitän des schnellen Seglers, will Europa gerne sein Schiff zur Verfügung stellen. Nur ihre Söhne, die halten gar nichts von diesem Plan.
„Mutter, was, wenn dahinter böse Geister stehen, die dir schaden wollen?“
„Wie kommt ihr denn darauf?“ fragt Europa entgeistert. An so etwas hatte sie nun überhaupt nicht gedacht. Dann kommt ihr eine Idee, die sie noch sehr bereuen wird:
„Begleitet mich doch, dann könnt ihr mir ja beistehen, falls Böses droht!“
Samadanthys und Parsephon sind sprachlos. Kurz wechseln sie Blicke, dann kommt gleich ihre Antwort:
„Natürlich, Mutter, natürlich, das machen wir gerne!“
Abends, im Haus des Pallnemvus, sitzen einige der Ratsherren zusammen und sind in ein erregtes Gespräch verwickelt:
„Unser Mann in Sidon muss unbedingt benachrichtigt werden!“
„Habe ich schon in Gang gesetzt!“ antwortet Zygmontis Gromdas leise.
„Entweder wird der Meeresgott sich einmischen oder eben unser Mann in Sidon.“
Zustimmendes Gelächter. Der Glanz in den Augen der Ratsherren glimmt wie giftiges Feuer, das sich durch alles hindurch fressen will.
„Wir werden sie doch noch los werden, ohne dass heraus kommt, wer nachgeholfen hat!“
Die alten Ratsherren nicken bedächtig vor sich hin. Sie fühlen sich wichtig, mächtig und als treue Diener ihrer Insel.
Dass die große Göttin aber weiter dafür sorgen will, dass die fast schon vergessene Botschaft vom Glück weitergegeben wird, kann den drei listenreichen Olympiern genauso wenig Freude bereiten wie dem Rat der Kreter. Sie wähnen sich in ihren Racheplänen an Europa auf Erfolgskurs. Heftige Winde stürmen von Hesperien her Richtung Osten, wild wogen Wellenberge gegen die zerklüfteten Küstenstreifen. Im Hafen – geschützt von hohen Wellenbrechern – schwanken die Segler an ihren Leinen.
Schon eine Woche später gehen sie an Bord der Boreia: Chaturo, der Kapitän, war schon am Vorabend vor Ort, kümmerte sich um das Vertauen der Vorräte, ließ frisches Wasser in hohen Krügen verstauen. Und im Abendsonnenlicht warf auch Zeus einen Blick auf seine Lieblingsinsel, auf der nun Europa alle Fäden in Händen hält. Leichter Nebel liegt über dem weiten Hafenbecken, als Athanama zusammen mit ihrer Freundin Europa vom Palast herunter kommen. Ihre Dienerinnen tragen Kisten mit Kleidern, Geschenken hinterher. Europas beide Söhne freuen sich auf die Reise und sind gut gelaunt mit Seesäcken bepackt auch unterwegs zur Boreia. Und Chandaraissa, die Hohepriesterin, will die Abfahrt ihrer neuen Freundinnen auf keinen Fall verpassen. Sie hatte am frühen Morgen noch vor dem großen Bild der großen Göttin für sie gebetet: „Schütze sie, leite sie und bring sie uns heil zurück!“ Sie hatte besonders viel Weihrauch in die großen Schalen geworfen. Der Duft machte ihr wunderbar schwindlig. Und auch die jungen Priesterinnen, die sie unterstützen durften bei diesem morgendlichen Gebet, atmen das schwere Aroma lustvoll ein.
Chaturo, der gerade in der Kapitänskajüte Athanama leidenschaftlich umarmt und küsst – seit Tagen mussten sie aufeinander verzichten – hatte seinen Leuten bereits den Befehl zum Ablegen gegeben. Heimlich schauten einige der alten Ratsherren dem Losfahren des Seglers grinsend zu: Hoffen wir, dass wir dieses Schiff nie wiedersehen müssen, denken sie dabei.
Als die Boreia nun aus dem Schutz des Hafens ins offene Meer gleitet, spüren alle an Bord auch gleich den hohen Wellengang. Starker Wind bläst weiter kräftig aus Hesperien kommend und reißt den Segler ordentlich mit. Chaturo muss auf volle Besegelung verzichten, aber auch so kommt das Schiff schnell, sehr schnell voran. Es neigt sich dabei ächzend zur Seite, fast gehen die Wellen an backbord über die Reling. Aber alle an Bord vertrauen auf ihren Kapitän und die Stärke der Boreia.
Stunden später – eigentlich müsste die Sonne hoch oben am Himmel stehen – türmt sich schwarzes Gewölk über ihnen auf, der Wind steigert sich zum Sturm, Blitz und Donner kommen dazu. Nun macht sich nicht nur Europa Sorgen. Da reißt das Vordersegel. Chaturo schreit Befehle in das Tosen. Alle an Bord versuchen sich gegenseitig zu stützen und zu halten. Jetzt rollen sogar Brecher übers Boot. Für Augenblicke scheinen alle unter Wasser zu schweben, dann können sie wieder atmen, spucken, husten. Aber schon folgt der nächste Schwall. Europa bereut es, ihre Söhne mit an Bord genommen zu haben. Droht ihnen allen jämmerliches Ertrinken?