Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 17
Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 17
Mit einem Brummschädel wacht er auf. Allein. In der Höhle. Ein Albtraum. Was sonst? Denkt er ziemlich schlecht gelaunt. Denn eigentlich müsste – wenn es keine Traum wäre – Europa, die nackte Prinzessin, die wunderbar sinnliche, neben ihm einladend liegen, die Augen verführerisch aufschlagen und ihn unwiderstehlich einladen, wieder von vorne zu beginnen mit dem Liebesspiel, dem Toben der Sinne, das er so noch nie mit einer Menschenfrau erlebt hatte. Wie sie es während der ganzen Nacht gerne und gierig getrieben hatten, nachdem sie beide auf seinem Floß vom Libanon her wohlbehalten hier auf Kreta gelandet waren. Wie hatte sie ihn angestrahlt, wie hatte sie ihn angelacht, wie bereit war sie ihm aufs Floß gefolgt, hatte ohne Zögern den Palast, die königlichen Eltern verlassen, um mit ihm – mit wem auch sonst – zu fliehen. Und wie bereitwillig hatte sie sich ihm hingegeben. Hatte sie sich ihm nicht völlig ausgeliefert, anvertraut? Und hatte es sich nicht wirklich gelohnt? Europa, die gut-, die weitsichtige. Nicht umsonst hat sie diesen vielsagenden Namen. Sie musste gewusst haben, dass sie damit unsterblich werden würde – zumindest in der Erinnerung der dummen Menschen, die aber auch wirklich alles zu glauben bereit sind, wenn sie nur damit angeben können.
„Gut, dass Hera nicht weiß, wo ich stecke.“
Er muss trotz der Kopfschmerzen lachen. Die denken doch wirklich ich sei auf dem Weg zu meinem Bruder, Hades, in die Unterwelt. Familienbande pflegen. Und die Geschichte mit dem Stier wird ihnen sicher gut gefallen – wie ich die lykischen Bauern bestraft habe, weil sie mir kein Futter geben wollten. Sie zu Fröschen, quakenden, gemacht habe, die selbst unter Wasser nicht aufhören, zu quatschen, diese Quatschbasen! Apoll und Artemis werden ganz schön staunen, wenn ich ihnen davon erzählen werde. Und nichts wissen sie von meinem Abenteuer hier auf Kreta mit Europa, der unwiderstehlichen!
„Das habe ich wirklich großartig eingefädelt und durchgezogen.“
Seine Augen haben sich an das Dämmerlicht in der Höhle gewöhnt. Aber sie sehen nichts neben ihm liegen. Keine Frau, erst recht keine nackte Frau und schon gar nicht Europa. Nun gesellt sich zum Brummschädel unverhohlener Zorn.
„Wo steckt sie denn?“
Der empörte Gott kann es nicht fassen. Ächzend rappelt er sich hoch, bedeckt seine peinliche Blöße und torkelt zum Ausgang der Höhle. Der Kopf schmerzt ihm rasend.
„Wo steckt sie denn?“
Im Osten fährt bereits der Sonnengott mit seinem Gespann los. Er steht blöde da und sucht die einsame Gegend nach Europa ab. Schnell blickt er sich um. Die Hänge, die Felsen, die Schlucht, der Strand, das Floß. Alles, wie es sein soll. Nur seine neueste Eroberung scheint ihn gefoppt zu haben. Dieser Gedanke verstärkt noch seine Kopfschmerzen und in seinem Zorn denkt er sich blitzschnell die wüstesten Rachegedanken aus.
„Das soll sie mir büßen!“
Er ist aber so von Sinnen vor Wut, dass ihm kein furchterregender Racheplan einfallen will. Stattdessen wird ihm im gleichen Augenblick klar, dass er sich ja noch für seine Familie ein Alibi besorgen muss. Gut, denkt er, dann verschiebe ich meinen Racheplan auf später. Das wird fürchterlich für dich werden, Europa, denn je mehr Zeit vergeht, umso schlimmer wird meine Rache werden, spricht er sich selber seinen Zorn schön. Nervös schnappt er sich sein goldenes Vlies, verlässt die verwaiste Höhle, in der er solch eine fabelhafte Nacht verbracht hat, und läuft hinunter zum Strand zu seinem Floß.
„Wo habe ich nur diese grässlichen Kopfschmerzen her?“
fragt er sich wahrlich sehr schlecht gelaunt. Der Tag beginnt aber auch wirklich absolut nicht so, wie er es sich geträumt hatte. Aber er muss sich aus dem Staube machen. Auf meinem kleinen Floß in der Weite des Meeres wird mich niemand suchen. Nicht, dass noch jemand der Familie – zum Beispiel dieser Tausendsassa Hermes – mich hier zu sehen bekommt und dumme Fragen stellt.
„Da sei Gott vor!“
Er muss selbst über diesen gelungenen Satz lachen und bricht spontan auf nach Hesperien:
„Ich bringe meinen Kinder einfach etwas goldenes Obst mit, so als Souvenir!“
Später hätte der Sonnengott auf der Weite des Meeres ein winziges Floß sehen können, auf dem ein noch winzigerer Mann hockt, vor sich hinstarrend, mit wenig Wind im kaum gebauschten Segel. Der will nach Westen, nach Hesperien. Aber der ist dem strahlenden Star am Himmel natürlich keines Blickes wert.