Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 171
Als hätte die große Göttin sie in einen Traum entführt.
Der Oberpriester hebt beide Arme hoch, weit streckt er sie auseinander, die Handflächen nach oben:
„Holde Göttin, Aphrodite, segne unsere Gäste und schütze mit uns ihre Pläne, damit sie an ihr Ziel gelangen und die Antworten hören, die sie suchen!“
Kaum hat er seinen Bittspruch beendet, setzt ein hohes Summen ein. Die jungen Priesterinnen wollen den Fremden zeigen, wie gewaltig ihr Ton in dieser Tempelhalle schwingt und die Zuhörer mitreißt. Und wirklich: Europa ist tief bewegt, genauso wie ihre beiden Söhne, wie Athanama und Chaturo und die wenigen Seeleute, die den schlimmen Schiffbruch überlegt hatten. Ergriffen stehen sie da, schauen wie benommen auf die große Marmorfigur, die fast bis zur Decke reicht, und sind voller Dankbarkeit, dass sie so freundlich aufgenommen worden sind.
Denn nachdem Athanama und Chaturo den anderen von der Quelle berichtet hatten, die sie vor lauter Liebesgier fast übersehen hätten, waren sie gestärkt weiter Richtung Nordosten gewandert, hatten schließlich Hirten getroffen, die ihnen sagen konnten, wie sie zum Tempel der Aphrodite finden würden. Und nun feiern sie mit den Inselbewohnern ein gastliches Fest. Weihrauch wird im Tempel angezündet, Gebete, Gesänge und ein fast unwirklich wirkender Tanz der Priesterinnen als Abschluss im Tempel: Europa fühlt sich stark an ihr eigenes großes Tanzfest erinnert, das so wirkungsvoll Männer wie Frauen verzaubert hatte. Jenseits jedweder Gewalt waren aus ihnen die stärksten Gefühle hervorgequollen und hatte sie übermäßig überschwemmt. Alle waren sie liebend dem großen Gefühl erlegen und hatten es genossen wie noch nie. Ihre große Göttin hatte sie alle verzaubert und in ihnen eine Botschaft verankert, die von liebender Zuwendung, von Achtung, Würde und sinnlicher Leidenschaft spricht.
Also auch hier, denkt Europa glücklich, auch hier wird die fast schon vergessene Botschaft vom Glück im Tanz beschworen. Die bunten Gewänder der Priesterinnen wehen bei den ausladenden Bewegungen wie Flügel um sie herum. Körperformen betonend oder wieder verdeckend und die nackten Füße klatschen dabei heftig auf die glatten Steinplatten. Parsephon, Sadamanthys und Chaturo vergessen vor Begeisterung fast zu atmen, auch die Seeleute stehen da mit klopfenden Herzen und gierigen Blicken, als sich die Tanzenden nun zu Flötentönen und Tamburinschlägen langsam Richtung Ausgang bewegen, die Gäste hinter dem Oberpriester als
kleine Prozession hinterher.
„Hast du die gesehen?“ flüstert Parsephon seinem Bruder ins Ohr, „ die sieht doch aus wie…!“
„Sei still!“ unterbricht ihn Sadamanthys barsch, obwohl er genau weiß, wen er meint oder vielleicht gerade deshalb.
Draußen blendet sie die warme Abendsonne, Lavendeldüfte schmeicheln ihnen ohnegleichen, während die Musiker und Tänzerinnen hinter dem Tempel verschwinden. Schade. Die beiden Brüder hätten nur zu gerne die Tänzerinnen aus der Nähe betrachtet, schade. Bald schon sitzen sie alle an einem langen, schmalen Tisch, auf dem Früchte, Brot, Wein und jede Menge Ziegenkäse ihnen entgegen lächelt.
„Lasst uns nun die Pokale erheben und auf das Wohl unserer Gäste trinken, die unsere Göttin gnädig aus höchster Seenot gerettet hat!“ ruft nun vom Kopf des langen, schmalen Tisches der Oberpriester, der längst sein Gewand gewechselt hat und nun in dunklem Gewand mit goldenen Armreifen und einem einfachen Goldreif im Haar vor ihnen steht und auf seine Gattin blickt, als er den Weinbecher erhebt. Alle greifen nun zu ihren Trinkgefäßen und genießen den herben Tropfen. Dann erhebt sich Europa und sagt:
„Werter Gastgeber, unser Retter! Wir sind tief ergriffen von dem, was wir gerade erleben mussten und nun erleben dürfen. Die große Göttin muss unser Anliegen wohl gutheißen, sonst stünden wir jetzt gewiss nicht hier. So aber bin ich mir völlig sicher, dass wir zurecht nach Sidon zum Orakel reisen sollen, um zu hören, was weiter mit uns und unseren beiden Söhnen geschehen soll. Und euch danken wir aus tiefem Herzen für eure Gastfreundschaft und dass ihr uns ein Schiff zur Verfügung stellen wollt, das uns ans Ziel bringen kann. Wir stehen tief in eurer Schuld und werden nie vergessen, was ihr uns Gutes tut! Auf euer Wohl, euer Glück und eure wunderbare Insel!“
Ihr Gastgeber fühlt sich sehr geschmeichelt, auch seine Gattin lächelt mild zu diesen wohlgesetzten Worten Europas. Dann wenden sich alle gierig den herrlichen Speisen zu, die reichlich auf dem langen, schmalen Tisch für sie bereit liegen.
Auf Kreta allerdings nutzt der Rat der Alten natürlich die längere Abwesenheit von Europa und ihren beiden Söhnen, den Thronanwärtern, um neue Fakten zu schaffen, die alle Pläne Europas über den Haufen werfen sollen.