Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 172
Der Rat der Alten will Fakten schaffen.
Diesmal ist es Collchades, der eine Sondersitzung des Rates verlangt. Und noch am gleichen Tag – das Schiff, das Europa zusammen mit ihren Söhnen nach Sidon bringen soll, müsste längst in Phönizien angelangt sein – treffen sich die Ratsherren im Ratssaal. Sie haben keine Ahnung, warum Collchades sie ruft. Nervös nehmen sie auf ihren Sitzen Platz, tuscheln miteinander. Dann rauscht Collchades herein, grinsend. Er fuchtelt mit seinen Armen in der Luft herum, sein Gewand weht um ihn herum wie ein sich blähendes Segel, noch im Gehen beginnt er zu reden:
„Hohe Ratsherren! Schlechte Nachrichten muss ich euch melden…!“
Und schon wird aus dem Raunen ein Durcheinanderreden, ein Gestikulieren. Einige der Ratsherren springen vor Aufregung auf, andere halten den Atem an.
„Collchades“, unterbricht ihn Pallnemvus verärgert, „woher hast du deine Informationen, hä?“
„Pallnemvus, lass ihn doch ausreden!“ fährt ihm Zygmontis dazwischen, „er wird uns schon noch alles offenbaren.“
Collchades nickt, holt Luft und schaut stolz in die Runde:
„Gerade ist ein schneller Segler aus Ägypten im Hafen vor Anker gegangen und die hatten Nachrichten dabei: Im Norden habe es vor Tagen ein Unwetter gegeben, ein Schiff aus Kreta sei untergegangen – mit Mann und Maus!“
Sofort wird es leichenstill im Saal. Aber nur für für einen Augenblick. Dann reden alle durcheinander. Die Augen der alten Männer leuchten, ihre Hände vollführen wahre Tänze in der Luft und ihre Stimmen purzeln durcheinander wie Kieselsteine bei einem Wellenschlag.
„Ruhe, Ruhe!“ Berberdus, der Vorsitzende, will seines Amtes walten, „Ruhe, ich eröffne hiermit die Sitzung. Einziger Tagungspunkt: Trauerzeit und Wahl des neuen Minos!“
Sofort kehrt tatsächlich wieder Ruhe ein. Denn jetzt ist es wichtig, dass man als Ratsherr keinen Fehler macht, kein falsches Wort sagt, nicht den falschen Mann unterstützt und sich selbst in Position bringt. Berberdus erteilt Gromdas das Wort:
„Ratsherr Gromdas, du hast das Wort, aber fasse dich kurz!“ Die anderen nicken in Lauerstellung. Gut, dass sie selbst nicht zu erst das Wort ergreifen müssen. Gromdas grinst, nickt, erhebt sich, räuspert sich und sagt dann kurz und bündig:
„Werte Ratsherren! Die Götter haben eingegriffen, nun ist es an uns, die Folgen planvoll zu gestalten. Als erstes müssen wir das Volk informieren, dass Europa, die Gattin des letzten Minos und Regentin zusammen mit ihren beiden jungen Söhnen, Sadamanthys und Parsephon, bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen ist.“
Ergriffenes Schweigen in der Runde, gut gespielt und scheinbar würdevoll inszeniert, obwohl das Volk gar nicht zuschauen kann. Gromdas holt tief Luft und fährt dann so fort:
„Zweitens setzen wir – aufgrund der Größe der Tragödie – ein zweiwöchige Trauerzeit an. Der Palast soll mit schwarzen Tüchern verdeckt werden. Und zwei Wochen lang soll vor dem Palast ein Gedenkfeuer brennen.“
Zustimmendes Nicken. Gromdas spürt, dass er sich gerade selber in Position bringen kann. Er macht ein sehr ernstes Gesicht, als wolle er sagen, dass ihm gar nichts an der Macht liegt, die da gerade ihre Hände nach ihm auszustrecken scheint.
„Und drittens: Danach muss der neue Minos inthronisiert werden, damit Kreta nach innen und außen handlungsfähig bleibt.“
Keltberias schielt hinüber zu Berberdus, Collchades nimmt Blickkontakt mit Zygmontis auf und Pallnemvus rechnet blitzschnell durch, was es ihn kosten wird, der Minos zu werden. Dabei pochen alle mit ihren Fingerknochen auf die Pulte. Wir sind einverstanden.
Dann geht alles sehr schnell. Die Ratsherren setzen einen kurzen Text auf, den der Herold heute noch vor dem Palast verlesen muss, damit das Volk gar nicht erst mit Gerüchten um sich werfen kann. Die langen, schwarzen Tücher müssen vom Dach des Palastes heruntergelassen werden, das große Feuer mus entfacht werden, im Tempel der großen Göttin soll die Hohepriesterin Chandaraissa eine Gedenkfeier für die Opfer des Schiffsunglücks vorbereiten. Am besten schon Morgen soll das über die Bühne gehen.
Die Ratsherren jubilieren innerlich. Endlich ist ihr ärgster Feind, diese Aufsteigerin Europa, an ihrem eigen Ehrgeiz zugrunde gegangen. Die Götter haben ihr streng zu verstehen gegeben: Nur wer so hoch steht, der kann auch so tief fallen.