Europa – Und seine „wahren“ Verteidiger (Meditation # 18)
Zuhauf standen monatelang die europäischen Pharisäer ganz vorne, um lautstark den ungezogenen Burschen zur Ordnung zu rufen: Wir lassen uns nicht auf der Nase herum tanzen, wir lassen uns nicht über den Tisch ziehen, und vor allem lassen wir uns Europäer – die fleißigen und sparsamen – nicht ins Bockshorn jagen. Jawohl. Wer Schulden macht, soll sie gefälligst auch wieder zurück zahlen – auf Heller und Pfennig. Dann können wir auch über weitere Hilfen sprechen; aber nicht immer wieder neue Hilfspakete fordern, ohne dass sich vor Ort etwas ändert.
Ging es nicht so oder so ähnlich oder noch deutlicher? Ja, selbst das Unwort vom Exit – als Grexit – wurde auf einmal gesellschaftsfähig. Denn der EURO, die heilige Kuh (oder sollte man besser, um im Bild zu bleiben, vom heiligen Stier sprechen?) galt es tapfer zu verteidigen. Die Kanzlerin und ihr erster Minister ein starkes Team in jenen Tagen. Da wollte man Einigkeit zeigen. Aber sie zeigte sich nicht so recht. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Denn schon bald ist das Thema vom Tisch – hockt jetzt zumindest am Katzentisch – ein viel ergiebigeres wird da über Nacht (?) den aufgeregten Europäern auf den Tisch des großen Hauses geknallt: Der schier endlose Strom an Flüchtlingen.
Damit hatte nun wirklich niemand gerechnet. Anfangs sah es doch auch eher so aus, als gehe es um charakterlose Schlepper, die verängstigte Nichtschwimmer einfach auf hoher See alleine lassen in ihrem Schlauchboot. Kein Europäer denkt da an verfehlte Politik Europas im 20. Jahrhundert oder an fatale Kriege vor und nach der Jahrtausendwende, die als latente Ursachen in Frage kämen für die Wellen an Flüchtlingen, die nun Tag und Nacht an unseren Gestaden anlanden.
Jetzt ist guter Rat teuer, denn ureigenste Ängste melden sich unangemeldet dreist zu Wort: Was soll das denn werden, wenn das so weiter geht? Wo soll das enden? Was wird das uns nicht alles kosten?
Was sind das überhaupt für Menschen? Was wollen die denn wirklich? Die werden doch wohl kaum hier im tiefsten Winter bei uns herumstehen und warten, dass man ihnen warme Decken bringt und die Kinder ordentlich versorgt oder? Wir verstehen ihre Sprachen nicht, halten ihren Glauben für – um es einmal ganz moderat zu formulieren – der Gewalt gegenüber nicht ganz unaufgeschlossen. Und wie die ihre Frauen behandeln?
Wie gerne würde man sich doch viel lieber jetzt wieder mit dem Griechenland-Problem beschäftigen! Deren Sprache verstehen die Westeuropäer zwar auch nicht, aber mit denen kann man zumindest gut Englisch reden und Europäer sind sie ja nun wirklich auch (stammt der Mythos der Europa nicht sogar aus dieser Gegend?) und Christen sind sie ebenfalls. Außerdem ist Kreta immer noch eine Reise wert.
Aber all diese anderen Fremden!?
Das ist die Stunde der „wahren“ Verteidiger des Abendlandes, was auch immer damit gemeint sein mag. Die Stunde derer, die die Sorgen und Ängste des gemeinen Europäers wirklich ernst nehmen. Das geht in einfachen Formeln und großen Gesten und kostet rein gar nichts – höchstens eine gut platzierte Präsenz in den Medien. Tja, und da endlich macht sie fatale Fehler, die sonst so zurückhaltende, abwartende Kanzlerin. Und darauf haben die grauen Männer der zweiten Reihe nur gewartet. Es gab einfach keine Angriffspunkte. Jetzt liefert sie einen mit ihrem großen Verständnis für die Flüchtlinge und ihrer Strenge den eigenen Leuten gegenüber. Da lässt sich endlich gut punkten. Jetzt schön langsam aus den Deckung kommen, immer eine besorgte Miene machen und sich bereit halten, wenn sich der Wind dreht. Endlich Morgenröte. Endlich. Und keiner kann dann sagen, man habe da eine neue Dolchstoßlegende aus der Taufe gehoben. Nein. Man nimmt einfach nur die Sorgen und Ängste der Leute ernst. Es geht um Europa, klar. Aber da fangen wir doch am besten mal bei uns zu Hause an. Eine Frau an der Spitze des Landes ist da vielleicht nicht mehr die wirklich griffige Antwort auf die anstehenden Sorgen und Nöte und Ängste der Leute. Dass man uns nicht missversteht: Ihre Verdienste sind unbestritten, aber jetzt scheint eine Epoche in Europa loszubrechen, die wir nur mit aller Kraft und vereintem Wollen zu meistern verstehen. Vielleicht ist sie ja auch einfach amtsmüde. Wäre ihr gutes Recht.
Also gut aufpassen jetzt in den nächsten Wochen und Monaten! Notfalls Farbe bekennen, die Reihen dicht schließen, und sich einfach nur bereit halten. Wie eine reife Frucht fällt uns dann der Machtwechsel an der Spitze in den Schoß. Loyal solange wie nötig, aber dann…