Europa – Fortsetzung der alten Geschichte (Mythos # 19)
Wie schnell alles gegangen war! Endlich war er von seinem Pferd gesprungen und hatte Halt gemacht, direkt vor einer langen Mauer mit vielen Toren – ich, mehr stolpernd als laufend und völlig außer Atem, wollte ihn gerade zur Rede stellen, da hatte mir dieser miese Mann blitzschnell einen Sack über den Kopf gestülpt, hatte ziemlich unsanft meinen Arm gepackt und mich ohne auch nur ein Wort zu sagen mit sich fort gezogen. Schließlich – nach den hallenden Tönen unterwegs waren wir wohl durch lange Gänge geeilt – hatte der grobe Klotz mich einfach stehen gelassen. Ich hörte, wie eine schwere Tür zugeschlagen, ein Riegel betätigt wurde, dann Stille. Hastig zog ich den Sack von meinem Kopf herunter – ich hatte kaum Luft bekommen und arg geschwitzt.
Dämmerlicht. Flirrende Staubkörner in einem feinen Sonnenstrahl. Ja, weit oben in der Decke ist eine Öffnung, da kommt das wenige, aber freundliche Licht her. Langsam gewöhnen sich meine Augen an den wenig hellen Raum. Es ist ein kleiner Saal. Völlig leer. Keine Stühle, kein Tisch, kein Mensch. Ich stehe etwa in der Mitte. Während meine Augen alles abtasten, stürzen wilde Gedanken, Ängste, Hoffnungen durch meinen Kopf: Was steht mir jetzt bevor? Wie schön, die fliegenden Delfine an den blauen Wänden! Die Kinder, was wird aus ihnen, werden sie bestraft werden? Und der Fremde in der Höhle, der göttliche Mann, was wird er von mir denken? Die Tiere scheinen sich wirklich zu bewegen, die Augen täuschen mich. Dann spüre ich Müdigkeit in meinen Beinen. Soll ich mich hinlegen, ausruhen? Nein, ich will aufrecht stehen, wenn man mich holt. Keine Schwäche zeigen. Auf keinen Fall. Meine Haare, mein Gewand! Ich muss richtig mitgenommen aussehen. Ist das von Vorteil oder eher von Nachteil? Ich will mein verwildertes Aussehen nutzen. Wie lange wird man mich warten lassen? Werde ich beobachtet? Gibt es in den Wänden vielleicht kleine, heimliche Öffnungen? Und schon fühle ich mich beobachtet. Oder ist es die Göttin, die auf mich schaut und mitleidig lächelt: „Prinzessin, warum so verzagt? Schon vergessen, wie kraftvoll deine Ausstrahlung ist?“ Gut, dass keiner meine Gedanken lesen kann, niemand meine Unsicherheit bemerkt. Stolz will ich den König anschauen. Fordernd. Er soll nicht glauben können, weil ich ein Flüchtling bin, habe er leichtes Spiel mit mir. Meine Göttin, nie lässt sie mich allein.
„Wunderbar. Ich danke dir.“
Da hört sie wieder, wie der Riegel betätigt wird. Sie reckt sich, atmet tief durch und schließt dabei mutig die Augen.
„Folgt mir, der König will ausreiten, da hat er wenig Zeit für eine fremde Frau, einen Flüchtling. Außerdem ist die Audienzzeit für heute vorbei. So will er die Fremde nur kurz sehen. Danach wartet dann im Labyrinth der gierige Unhold auf dich.“
Eine lange Rede, hätte ich gar nicht gedacht. Dabei schaut er mich so abfällig von oben herab an, dass ich fast schon lachen muss, so übertrieben macht er das, der Bote des Königs. Ich verziehe keine Miene. Das erstaunt ihn. Keine ängstliche Rückfrage, kein Protest?
„Wir sollten ihn also nicht warten lassen oder?“,
antworte ich ihm so gleichmütig wie möglich.
„Wenn wir dem König gegenüber stehen, wirf dich gleich auf den Boden! Es ist dir nicht erlaubt, ihn anzuschauen.“
Darauf gebe ich ihm keine Antwort. Ich weiß, dass der König – mein Vater hat manchmal von ihm gesprochen – mein Leben beenden kann oder eben auch nicht. Ich muss die Gelegenheit nutzen. Ich werde einfach auf dem Weg zu ihm meine Göttin um Beistand bitten. Ich meine, ihre Nähe zu spüren. Ich bin also nicht allein.
Wieder lange Gänge, Treppenhäuser. Wo führen die hin? Wer wohnt hier denn alles? Überall müssen Zimmer, Säle sein. Aber niemand begegnet uns. Niemand. Ein einziges Labyrinth. Und wieder huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Eitler Führer, du hast dich geirrt: Auf mich wartet nicht ein Unhold, auf mich wartet der König. Der erste Augenblick wird alles entscheiden, glaube ich die Göttin flüstern zu hören.
Vor uns weitet sich der Gang. Am Ende sehe ich zwei Männer stehen. Beide halten Doppeläxte in den Händen, starren ins Leere. Als wir näher kommen, machen sie einen Schritt zur Seite, klopfen dabei mit den langen Stielen der großen Äxte gleichzeitig einmal auf den Steinboden. Wie ein Welle breitet sich der dumpfe Ton durch den Gang aus. Als könnten sie zaubern, öffnet sich langsam die Flügeltür. Helles Licht, ein weiter Saal, und da steht er mittendrin, der König und schaut mich an.