Europa – Meditation Nr. 478
Wie Syrien unseren Geschichten-Vorrat befeuert.
Gerade feierte man in Köln die sogenannten „Heiligen Drei Könige“ – Reste von ihnen dümpeln in einem goldenen Käfig im Kölner Dom vor sich hin – Gläubige strömen ehrfürchtig zu ihnen hin, wie seit tausend und eins Jahren, obwohl die Geschichte ziemlich frei erfunden ist (von alten Männern vor langer, langer Zeit einmal aufgeschrieben!), es soll gleichzeitig dort einen anderen König gegeben haben, der alle neugeborenen Jungen abschlachten wollte, weil ein künftiger Usurpator unter ihnen sein sollte, wie man sich erzählte. Und dass die drei Schädel (wer das wohl gewesen war im 3. oder 4. Jh.?) vom Kölner Erzbischof persönlich in Mailand gewaltsam geraubt wurden, ist natürlich keine Geschichte wert. Die würde höchstens stören.
Immer wieder diese Gewalt-Geschichten! Mit Gänsehaut-Gefühl werden sie schwer atmend erzählt, ähnlich der aus tausend und eine Nacht, wo eine Frau Nacht für Nacht um ihr Leben erzählen muss, um nicht geköpft zu werden oder die Gewalt-Geschichte von der Entführung der Europa, die wir hier in Europa stolz „unseren Gründungsmythos“ nennen.
Und wenn die derzeitige Lückenbüßerin Baerbock in Damaskus gar nicht mehr aus dem freundlichen Nicken heraus kommt, weil sie der böse Mann ihr gegenüber einfach nicht ordentlich begrüßen will, soll dabei für die Zuschauer die erlösende Geschichte des Feminismus erzählt werden: stolz will sie dem Finsterling klar machen: Nur wenn ihr eure Frauen so behandeln werdet, wie wir das tun (steigende Zahlen bei häuslicher Gewalt und Femizide hin oder her), und unsere maroden Demokratie-Spielregeln übernehmt, könnt ihr mit unserer Unterstützung rechnen. Das lächeln die Bartträger gekonnt einfach weg, schütteln ihre Häupter und fragen sich insgeheim: Kapieren die einfach nicht, was sie, die allzu christlichen Europäer, hier in ihrer Gier nach Öl und Einfluss alles an Gewalttaten angerichtet haben, seit nunmehr mehr als hundert Jahren, und dass wir das jetzt nach unseren eigenen Spielregeln gestalten?
Weder die Gewalt-Orgien der Russen, noch die der westlichen Wohlstand versprechenden Militärs in Afghanistan, noch die im Irak oder im Sudan haben den Zeitgenossen in Europa und in Übersee die Augen dafür geöffnet, dass schnöder Eigennutz und arroganter Fortschritts-Missionsgeist die Triebfeder für die selbstgefälligen Übergriffe waren – mit so viel Leid und Rachegefühle erzeugenden Kollateralschäden – , so dass sie nun im Gewand von Friedensengeln und neutralen Parlamentären meinen daher kommen zu können, um sich als potente Vermittler aufzuspielen. (Dass sich die Übergangsministerin im Außenamt dabei mehr und mehr um die Gunst ihrer eigenen Familie bringt, die sie immer seltener zu Gesicht bekommt, ist zwar sehr schmerzlich, aber selbstverständlich dem Patriarchat geschuldet, dessen Mustern sie sich erfolgsorientiert unterworfen hat – in Hosenanzug und Männerposen und Diktion)
Die Medien – digitale wie analoge – bringen immer wieder diese Szene vom verweigerten Handschlag – Streit von Kleinkindern im Sandkasten ist nichts dagegen – um misstrauisch die Syrer unter Generalverdacht zu stellen: Wir glauben euch nicht, ihr seid Wölfe im Schafspelz, ihr habt bloß Kreide gefressen! Wir aber sind ehrlich, hilfsbereit und gar nicht hinterlistig.
Narrative nennt man das ja heutzutage, nicht mehr bloß Geschichten, die da durch den Äther schwirren. Doch die Bereitschaft, den eigenen Geschichten so etwas wie Wahrhaftigkeit zu unterstellen und den anderen nichts als Lügen, ist ein inzwischen globales Narrativ, das keine Halbwertszeiten kennt: Es blüht auch im Neuen Jahr ungebrochen weiter.