07 Jan.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte Nr. 180

Europa und das Geburtstagsfest des Gottes Zeus. (Teil I)

Obwohl die Erinnerung an ihre eigene Entführung durch den hinterlistigen Gott in den tiefsten Erinnerungskeller von ihr selbst verbannt worden ist, meldet sie sich dann und wann wieder. So auch jetzt, wo sie das Geburtstagsfest des Gottes auf Berg Ida vorbereiten muss. Aber Chandaraissa, die Hohepriesterin, ihre beste Freundin, ist ja an ihrer Seite:

Die jungen Priesterinnen sollen während der Prozession dorthin singen und tanzen – mit Blütenkränzen geschmückt und mit bunten Bändern schwingend. Und in der Höhle sollen die alten Ratsherren vorgehen dürfen, um als erste dem Gott ihre Treue zu schwören. Das würde den Kretern dann zeigen, dass zwischen dem Palast und dem Rat Einigkeit herrscht. Eine Idee, die Europa sehr gefällt, denn sie möchte den Regierungsantritt ihrer beiden Zwillingssöhne, Sadamanthys und Parsephon, nicht mit Streit und Missgunst beginnen lassen.

Es ist ein windiger und stark bewölkter Tag, als man gemeinsam loszieht – Richtung Ida. In guter Tradition wird man am ersten Tag der Wanderung in kleinen Gruppen gehen. Abends die Zelte aufschlagen und am nächsten Morgen weiter wandern. Mit Fackeln und Tanz erreichen sie dann den Eingang der Höhle – und nach alter Sitte geht der Minos voran. Doch diesmal wird alles anders sein.

Während die jungen Priesterinnen – vorneweg wie immer Amirta, Turguta, Sahalata, Sarsa und Belursa – in zwei Kreisen um einander tanzen und singen – haben sich Europa und Chandaraissa weit vor dem Eingang der Höhle umgedreht: sie wollen nicht als erste hinein gehen, sie wollen den alten Ratsherren den Vortritt lassen:

„Berberdus“, so beginnt Europa ihre kleine, vorbereitete Rede, „im Palast ist beschlossen worden, dass aufgrund der besonderen Situation – schließlich sind meine beiden Söhne ja noch nicht volljährig und inthronisiert – den Ratsherren diesmal der Vortritt gebühren soll, Zeus zu grüßen und ihm zu opfern.“ Dabei gibt sie mit einer großen Geste zu verstehen, dass die alten Männer an ihr vorbei gehen sollen. Sie verneigt sich sogar leicht vor ihnen. So entgeht ihr allerdings – anders als ihrer Freundin Chandaraissa – dass die Ratsherren vor Entsetzen ganz bleich werden und verstohlene Blicke tauschen. Die Kreter aber klatschen jubelnd Beifall. Sie heben ihre Fackeln hoch und schwenken sie vor Freude hin und her. Schöne Schattenspiele huschen über die Felsen, die zu beiden Seiten des Höhleneingangs emporstreben.

„Welche Ehre, welche Ehre“, stottert Berberdus und winkt seinen Mitratsherren, ihm zu folgen. Dahinter schreiten die Priesterinnen, angeführt von Chandaraissa und dahinter Europa mit ihren Zwillingssöhnen und dahinter das Volk, dicht gedrängt. Denn alle wollen sehen, wie in der Höhle Zeus geopfert wird.

Schon kommt aber die Prozession ins Stocken. Nicht nur weil es gleich steil über in den Stein gehauene Stufen bergab geht, sondern weil davor Äste und dicke Zweige liegen. Wie kommen die dahin? Gromdas, der Ratsherr, der als letzter ging, dreht sich jetzt um und ruft:

„Europa, wir kommen hier nicht weiter, der Abstieg ist von Ästen und quer liegenden Bäumen versperrt!“

Alle können die Stimme des Ratsherrn deutlich hören, sofort beginnt ein anschwellendes Getuschel. Was hat das zu bedeuten? Wer war das?

„Wartet hier“ raunt Europa Sadamanthys und Persephon zu, „ich schaue, was da vorne los ist. Mir ist das nicht geheuer, vielleicht seid ihr in Gefahr!“

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