Europa – Meditation Nr. 511

Solche Bilder sind ins historische Gedächtnis der Deutschen tief eingebrannt.
Diese Gleichzeitigkeit ist fast unerträglich: lange Autoschlangen an Zollgrenzen: Urlauber wollen endlich an ihr Ziel gelangen – „mare nostrum“ – „unser“ Meer – wo schon die Bewohner stöhnen, weil diese Menschenmengen einfach viel zu viel geworden sind. Schlecht gelaunte kleine Kinder, die nur noch mit ununterbrochenem Algorithmusflug vordergründig zu beruhigen sind – so lange eben dieser Sternen-Ersatz-Flug dauert – fletzen in ihren klima-gekühlten Sitzen und sind nicht mehr ansprechbar, greifen nebenher in die Chips-Tüte und mampfen und mampfen still vor sich hin, stieren Blicks.
Lange Menschenschlangen mit zerbeulten Töpfen an provisorischen Ausgabestellen unter der unbarmherzigen Sonne an eben diesem gleichen Meer, nur ein paar hundert Kilometer östlich. Ein bizarres Gedränge, weil es viel zu wenig gibt und weil die Kinder möglichst schnell wieder weg wollen, auch beim Wasser holen. Denn immer wieder explodiert aus heiterstem Himmel eine Bombe. Und ausgemergelte Winzlinge in den Armen verzweifelter Mütter, die insgeheim wissen, dass sie nur dem Tod bei seiner Arbeit helfen, statt Leben wachsen zu lassen.
Vor 80 Jahren machten amerikanische und britische Fotografen ebenfalls Bilder von mehr als ausgemergelten Kinder, Frauen, Männer, junge wie alte gleichermaßen, die aus tiefen grauen Augenhöhlen auf die Befreier starren, als wären sie in einem Traum stecken geblieben. Aber sie bekommen endlich wieder etwas Nahrhaftes zu essen und zu trinken. Es fühlt sich an wie ein zarter Hoffnungsschimmer.
Nicht so an den Gestaden „unseres Meeres“: da scheint Nahrung nur die kurze Unterbrechung vor dem Ende notdürftig auszufüllen, „Gaza, Gaza, warum hast du uns verlassen?“, die glasigen Augen der Babies schon auf ihrem Flug in andere Welten, wo keine Gewalt mehr das Sagen hat, wo Ruhe herrscht, wo Helfen alle gleichermaßen beseelt, wo Frieden alle gleichermaßen beflügelt und beseelt. Aber keine Antwort, nirgends.
Und gleichzeitig wechseln in voll klimatisierten Wohnzimmern die Bilder von sportlichen Highlights zu drastischen Kriegsszenen, von Waldbränden, Sturzfluten und schmelzenden Gletschern in Grönland zu Krimis, hysterischen Frage-Runden und staub trockenen Politiker-Statements.
Das Chaos übernimmt wieder weltweit das Ruder, das vorher nur scheinbar in vernünftigen Händen zu ruhen schien. Ein zäher count-down wälzt sich bräsig weiter und weiter. Und wie Lemminge scharen sich alle hinter Leittieren und deren Staubwolken.