24 Feb

Europa – Mythos # 29

Lauter Lügen – eine atemberaubende Erfolgsgeschichte

Es hatte sich schon früh angekündigt. Riesige Wolkenberge schoben sich von Westen her immer düsterer über das Meer und die große schöne Insel. Als wolle der Tag gar nicht Tag werden, als wüsste er schon, was für ein schwarzer Tag es werden würde.

Dann beginnt das Grollen, bald folgen Blitze – beides in immer kürzeren Abständen. Das Vieh schreit in den Ställen, die Menschen suchen Zuflucht in ihren Hütten, Wege und Straßen menschenleer. Staub wirbelt auf, eine schwarze Katze huscht vorbei. Dann fallen die ersten Tropfen. Dick und schwer platzen sie auf dem staubigen Boden auseinander. Böen fegen über die Weiden, selbst die Vögel verlassen den düsteren Himmel. Wer hat den Zorn der Götter so erregt?

Chandaraissa hat ihre jungen Priesterinnen im Tempel zusammengerufen. In ihren Augen versteckt sich die Angst nur schlecht. Dabei war der gestrige Tag doch so wunderbar gewesen: Ihre Herrin hatte ihnen kleine, lustige Geschichten erzählt von verliebten Waldgeistern und Flussnymphen. Und auch Europa, die fremde Freundin ihrer Herrin seit gestern erst, hatte ihnen Geschichten aus ihrer Heimat erzählt von Festen bei Fackelschein, von Federballspielen am Meer und von einem geheimnisvollen Floß, das an ihrer Küste gesichtet worden sein soll, auf dem jemand entführt worden sein soll. Mit Herzklopfen hatten sie zugehört. Dann hatten sie sogar noch gesungen und getanzt wie schon lange nicht mehr.

Aber jetzt scheint es nur noch wie ein schöner Traum. Chandaraissa betet mit sehr ernstem Gesicht vor der Göttin, bittet um Nachsicht, um Schutz. Wovor? Die hohe Tempelhalle verdüstert sich immer mehr, das Grollen von draußen wird stärker und stärker. Jäh erhellt ein Blitz den Raum, den jungen Priesterinnen entfahren kleine Schreckensschreie, für die sie sich gleich wieder schämen. Chandaraissa dreht sich missbilligend zu ihnen um, sie duldet vor der Göttin keine kleinen Angstgefühle. Jeder soll sich vor ihr ehrfürchtig und still verhalten. Beschämt blicken sie zu Boden. Dann fährt Chandaraissa fort mit ihren Gebeten.

Gleichzeitig bittet im Palast Sardonius seine beiden Spione zum Raport. Er wundert sich. Sonst erschienen Thortys und Nemetos stets mit unterwürfigster Miene vor ihm, weil sie wieder nichts besonderes zu berichten wussten. Aber jetzt tragen sie ihre Köpfe stolz auf ihren Schultern, halten seinem Blick stand und warten nur darauf, dass sie endlich ihre schlimme Geschichte, die sie sich gestern noch schnell zurecht gelegt haben, vortragen dürfen.

„Nun, ihr beiden, es scheint, dass ihr endlich einmal etwas Interessantes zu berichten

wisst. Stimmt’s?“

Thortys wundert sich: Woher weiß Sardonius das? Hat Nemetos schon gequatscht? Und Nemetos wundert sich auch, Sardonius muss ein Hellseher sein oder hat er etwa auch noch Spione, die seine Spione ausspionieren?

„Setzt euch, aber fasst euch kurz, ich muss gleich zur Audienz zum Minos von Kreta.“

Verblüfft nehmen die beiden Platz, wechseln kurz fragende Blicke, dann legt Thortys los. So hatten sie es verabredet:

„Wir konnten gestern zufällig ein Gespräch der Hohen Priesterin mit der fremden

Frau belauschen und trauten unseren Ohren nicht.“

Hier macht Thortys eine vielsagende Pause. Er möchte Sardonius etwas zappeln lassen, das hat er von ihm gelernt, jetzt will er es ihm in kleiner Münze heimzahlen.

„Bursche, mach zu, sonst sollst du mich kennenlernen! Hast du nicht gehört,

dass ich keine Zeit habe?“

Mist, denkt Thortys, und Nemetos ist auch sauer, weil er es besser findet, wenn Sardonius guter Laune ist, dann würde sicher auch die Belohnung für sie beide größer ausfallen. Aber so? Warum macht er ihm jetzt mutwillig schlechte Laune?

„Verzeiht, Herr!“, lenkt Thortys schnell ein, befeuchtet sich noch kurz sein Lippen und redet hastig und fast stotternd weiter:

„Also Nemetos und ich waren gestern im Tempel – ihr wisst, an der gewissen Stelle – „

„Ja, weiter, weiter!“

„Da sagte die fremde Frau – Europa – zur Priesterin Chandaraissa, sie könne einen

Gifttrank mischen, den Archaikos trinken müsse, die Priesterin solle nur für viel

Weihrauch sorgen, um alle anderen Gerüche zu übertünchen, alles weitere solle

sie ihr überlassen, dann könnten sie beide nach dem Tod des Minos

von Kreta die Herrschaft an sich reißen und ihr Kind, das sie von Archaikos

erwarte, würde dann der nächste Minos von Kreta werden. Stimmt’s

Nemetos?“

Sardonius ist sprachlos. Kann er den beiden trauen? Oder haben sie vielleicht die Geschichte selbst erfunden? Wenn sie wahr ist, würde sich einiges auf Kreta radikal verändern, nicht nur für die Priesterinnen, nein, auch für ihn selbst. Er wäre dann der Retter des Minos von Kreta.

„Thortys, hör jetzt gut zu. Ich frage dich nur einmal, ob diese schlimme Geschichte

auch wahr ist. Wenn sie es nicht sein sollte, bist du ein toter Mann und Nemetos mit

dir. Wenn sie aber stimmen sollte, werde ich euch reich belohnen. Nun, ist sie wahr,

deine böse Geschichte?

Thortys bekommt es mit der Angst zu tun. Aber die Gier bleibt Siegerin. Und so versucht er mit ganz normaler Stimme und – ohne auch sonst zu zittern – zu antworten:

„Bei allem, was mir heilig ist, bei allen Göttern und guten Geistern,

wir haben es genauso gehört, wie ich es dir berichtet habe.“

Sardonius ist zufrieden. Für einen kurzen Augenblick ist es still im Raum. Dann erhebt er sich, die beiden Spione tun es ihm unterwürfig gleich, er kneift die Augen zusammen, atmet laut durch die Nase ein, zieht verächtlich die Mundwinkel nach unten und spricht dann so:

„Das Böse kommt zutage. Darum ist es heute auch so dunkel. Der Minos muss

sofort von dem Anschlag erfahren. Es wird dann noch heute ein Tribunal geben,

vor dem die Giftmischerinnen zur Rede gestellt werden. Und ihr werdet da als

Zeugen noch einmal das gleiche sagen. Und jetzt geht! Wenn alles so abläuft,

wie es nun muss, werde ich euch schon morgen reich für eure Dienste belohnen.

Geht jetzt!“

Mit schlotternden Knien verlassen die beiden Lügner fluchtartig den Raum – sich eifrig verbeugend dabei. Ungute Gefühle wühlen in ihren Eingeweiden. Es scheint zwar alles so zu laufen, wie es soll, aber es fühlt sich gar nicht gut an. Die Angst steckt ihnen in den Knochen. Diese stolzen Frauen werden sicher nicht so einfach ihren Lügengeschichten zustimmen, nein, sie werden von diesen Frauen als Lügner beschimpft werden. Dann kommt es darauf an, ob der Minos von Kreta eher denen oder ihnen Glauben schenken wird. Als sie an den Palastwachen vorbei nach draußen rennen, rutschen sie fast in dem regenüberfluteten Vorplatz aus, sie können sich gerade noch so gegenseitig stützen, aber als auch noch ein grässlicher Donnerschlag aus den grauschwarzen Gewitterwolken auf sie niederprasselt, verliert Thortys das Gleichgewicht und stolpert und fällt mitten in eine Regenpfütze. Nemetos, der schon weiterlaufen wollte, dreht sich um und hilft seinem Mitverschwörer und Lügenfreund wieder hoch. Mit ihren verschreckten Augen und den regenschweren Sachen sehen sie aus wie zwei nasse, geschlagene Hunde. Eine erbärmliche Szene. Die Wachen im Tor lachen laut und schadenfroh. Ein Blitz gibt dem seltenen Bild noch zusätzlich grelles Licht und metallene Farbe. Ein schwarzer Tag für viele in Patio, nur weiß es noch niemand von denen, die es bald schon treffen wird.

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